Arbeit und Struktur - Der Blog
fasziniert hatte: Danielas nacktes Knie), die meisten aber erstaunlich gut, bessere Bücher vielleicht nie gelesen: Pik reist nach Amerika, Arthur Gordon Pym, Herr der Fliegen, Der Seeteufel (Luckner), Huckleberry Finn. Zu meiner Überraschung hatten alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten: Rasche Eliminierung der elterlichen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. Ich überlegte, wie man diese drei Dinge heute in einem halbwegs realistischen Jugendroman unterbringen könnte; eine rein technische Frage, schreiben wollte ich das auf keinen Fall. Ich hatte genügend angefangene Projekte rumliegen.
Aber mit dem Floß die Elbe runter schien mir lächerlich; in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts als Ausreißer auf einem Schiff anheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber in wenigen Minuten hatte ich den Plot in meinem Kopf zusammen, und allein, um nicht alles wieder zu vergessen, hackte ich in den folgenden zwei, drei Tagen 150 Seiten als Gedankenstütze runter.
Beim Blick in diese Dateien jetzt zum ersten Mal der Eindruck: Ich kann das, ich habe keine Mühe mehr, mich für einen Ton zu entscheiden, schlimmer als Thor Kunkel wird das auf keinen Fall, ich hau das in einem Monat zusammen, wenn’s sein muß.
Dann Telefonat mit einem mir unbekannten, älteren Mann in Westdeutschland. Noch am Tag der Histologie war Holm abends auf einer Party mit dem Journalisten T. ins Gespräch gekommen, dessen Vater ebenfalls ein Glioblastom hat und noch immer lebt, zehn Jahre nach der OP. Wenn ich wolle, könne er mir die Nummer besorgen.
Es ist vor allem dieses Gespräch mit einem Unbekannten, das mich aufrichtet. Das Hamsun-Foto, die Gaußsche Glockenkurve und dieses Gespräch. Ich erfahre: T. hat als einer der ersten in Deutschland Temodal bekommen. Und es ist schon dreizehn Jahre her. Seitdem kein Rezidiv. Seine Ärzte rieten nach der OP, sich noch ein schönes Jahr zu machen, vielleicht eine Reise zu unternehmen, irgendwas, was er schon immer habe machen wollen, und mit niemandem zu sprechen.
Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, daß ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles weiterliefe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter.
Und wenn mein Entschluß, was ich machen wollte, nicht schon vorher festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur. Sonderbares Gefühl, mit einem gänzlich Fremden zu telefonieren und sich darüber zu unterhalten, wie man heimlich unter der Bettdecke weint. Rufen Sie mich nächstes Jahr wieder an. Ja, mach ich.
Rückblende, Teil 4: Das Moleskine :
Das sonderbare Hochgefühl, das ich schon kurz nach der Histologie hatte, hält an und nimmt zu, von Schüben der Todesangst unregelmäßig unterbrochen. Am 2. März informiert mich die Strahlentherapeutin Dr. Zwei, daß auf den Bildern ein “zweiter Herd” zu sehen sei, und ich irre stundenlang durch die Straßen, bis ich mich wieder beruhigt habe. Sterben kannst du nur einmal, sage ich mir, und das wird der erste Herd schon erledigen. Also wurscht. Es beeinflußt nur den Strahlengang.
Am 3. März kaufe ich mir am Alexanderplatz ein Notizbuch. Ich habe nie eins besessen, Dinge immer auf kleine Zettel, Bierdeckel, Fahrkarten notiert, wenn mir unterwegs etwas einfiel, Autor mit Notizbuch: schien mir immer eine Spur zu eitel für einen Behelfsschriftsteller wie mich. Jetzt ist der Wunsch danach übermächtig.
Ich trage als erstes meinen Namen und 50 Euro Finderlohn vorne ein, wenig später mache ich eine 1 davor: 150 Euro. Irgendwas in meinem Innern sagt mir: Ich darf das auf keinen Fall mehr verlieren.
Ich notiere Telefonnummern und Termine und Einkaufslisten. Dinge, die mir Spaß machen könnten. Daß ich die Kapitelanfänge im Zauberberg, die von der Zeit handeln, noch einmal lesen will. Den Polanski noch mal gucken, um mein Urteil zu überprüfen. Paracetamol und eine Tastatur. Ein Waffenschein. Meinem Nachbarn Geld für Luxuskopfhörer anbieten.
In einem Diagramm skizziere ich die Verhältnisse in meinem Kopf. Unter der Rubrik “Vorstellungen” liste ich Bilder und Gedanken auf, die ich hilfreich gefunden habe im Kampf mit der Todesangst, und immer, wenn ich vor Panik nicht mehr denken kann, schaue ich jetzt in mein Büchlein und gehe ein paar Bilder durch. Meistens reichen zwei oder drei, um mich zu beruhigen, und die, die sich als
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