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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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ordne ich mein Weltbild.

    Daß alles vergeht und die Menschheit stirbt und die Sonne erlischt und alles sinnlos ist, habe ich immer gewußt. Nie, auch mit sechs Jahren nicht, hatte ich den geringsten Zweifel daran. Aber das ist eine eher abstrakte Erkenntnis, konkret zu Bewußtsein ist sie mir nur zwei oder drei Mal gekommen im Leben. Einmal als Kind, als ich merkte, daß ich sterben müßte. Einmal, erinnere ich mich, beim Lesen eines Artikels über das Graviton, wo ich auf einmal wußte: Es gibt diese Welt nicht, es ist ein bodenloses Nichts, und es knickte mir die Beine weg.

    Ich habe das Fenster weit geöffnet, und der Sturm rüttelt an meiner Tür. Mehrmals während der Nacht kommt ein Pfleger, der den Wind durch die Station pfeifen hört, und ich bitte ihn, mein Fenster offen zu lassen. Ich stelle mir vor, mit meinem Bett in einem sehr hohen, schlanken Ziegelturm des Klinikums zu liegen, umgeben von schwarzer Finsternis und unendlicher Leere des Weltalls, und die Naturgewalten rütteln an meinem Turm und können nicht herein. Nicht in der winzigen Sekunde der Gegenwart, in der ich unantastbar bin.

    In dieser Nacht wiederhole ich in Endlosschleife mir trostreich scheinende Sätze und Gedanken und baue aus ihnen ein kleines Abendgebet zusammen, das ich mir immer wieder und auch in den nächsten Tagen und bis heute aufsage, wenn ich nicht schlafen kann oder der Boden schwindet. Während ich es aufschreibe, halte ich es für das Größte, was ich je gemacht habe.

    Niemand kommt an mich heran
    bis an die Stunde meines Todes.
    Und auch dann wird niemand kommen.
    Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.

    Dazu sehe ich den hohen Turm in die Finsternis ragen, sehe ein Stückchen Blei durch mein Hirn fahren und den Schädel zum Nichts hin öffnen. Dann einen Sekundenbruchteil das Panorama eines grünen Hügels, auf dem meine Freunde sitzen und picknicken. Dann nichts. Und dann das Ganze von vorn.

    Nach dieser Nacht verschwinden die Markierungen an den Gegenständen, und die Konzentration kehrt zurück.

    Ich würde nicht von einem spirituellen Erlebnis reden, auch wenn ich währenddessen darüber nachdenken mußte, ob es eines sei, und auch einige Tage lang den Eindruck hatte, es wäre eines gewesen. Wobei ich annehme, daß es in gewisser Weise das war, wovon manche Leute sprechen, wenn sie von einem spirituellen Erlebnis sprechen. Eine Infragestellung der Existenz, eine nicht mehr nur bloß abstrakte Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit im Angesicht der Unendlichkeit und eine Selbstüberredung zum Leben. Schließlich die Gewißheit, die Sache in den Griff zu bekommen.

    Eine Selbsttäuschung, von der ich von Anfang an wußte, daß sie eine Selbsttäuschung ist, und die trotzdem funktionierte. Im Grunde nichts anderes als die Einstellung, mit der ich im Alter von sechs oder sieben Jahren, nach der Erkenntnis des Todes, auch weitergelebt habe: Ich werde sterben, ja, aber es ist noch lange hin (und der Tag wird nie kommen).

    Es beginnt: Das Leben in der Gegenwart.

Rückblende, Teil 3: Ein Telefonat : 

    Am auf diese Nacht folgenden Morgen die Möglichkeit zur Entlassung aus dem Klinikum Friedrichshain. Natascha und Stese sind zufällig da und können mich nach Hause begleiten. Ein merkwürdiger Anblick, die Mädchen meine Tasche tragen zu sehen. Schließlich nehme ich sie doch selbst.

    Meine Eltern haben ein DVB-T-Gerät gekauft, damit ich fernsehen kann. Auf dem aufgeräumten Küchentisch ein Päckchen Zwieback: Du gehst doch jetzt in Chemotherapie.

    Das erste, was ich zu Hause mache: ich öffne die Dateien zum Jugendroman, um zu schauen, ob von da aus gestartet werden kann. Ob der Anfang geht, ob die Sprache geht, ob ich in meinem jetzigen Zustand dem Text überhaupt noch etwas abgewinnen kann. Die letzten zwei Jahre hab ich praktisch nur über dem Krimi gesessen. Das erste, was ich sehe, ist die Eintragung, wann ich Idee zu dem Jugendroman hatte: am 1. März 2004. Auf den Tag genau vor sechs Jahren. Ich glaube nicht an Zeichen, aber damit ist klar: Das ist das Projekt.

    Ich weiß auch noch, wie ich auf die Idee gekommen war. Um 2004 rum hatte ich eine Zeit lang alte Jugendbücher wiedergelesen, alles, was ich als Kind gemocht hatte, einerseits um zu schauen, wie sich das gehalten hatte, andererseits um herauszufinden, was für ein Mensch ich mit zwölf oder fünfzehn gewesen war. Bei manchen Sachen sehr bizarr (Kampf der Tertia von Wilhelm Speyer, ich wußte immerhin noch, was mich daran

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