Arbeit und Struktur - Der Blog
die Begeisterung für Literatur.
Ich bin Schriftsteller, und man wird nicht glauben, daß Literatur mich sonst kaltgelassen hätte. Aber was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und Pubertät regelmäßig und danach nur noch sehr sporadisch und nur bei wenigen Büchern hatte: daß man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewußtsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, selbst, um ehrlich zu sein, in Gesprächen mit Freunden nur selten und noch seltener in Filmen, und daß es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt eindeutig zuviel gelesen habe, eine Unterscheidung, die mir nie fremd war, aber unter Gewohnheit und Understatement lange verschüttet.
Man kann das natürlich auch kritisch sehen: Das Absacken in die Phantasiewelt als Ausdruck vollkommener Hilflosigkeit.
Ich lese DeLillo, den ich schon vor der OP angefangen hab, kann mich aber an vieles aus den letzten Kapiteln nicht erinnern und muß sie noch mal durchackern. Ich brauche drei Stunden für zehn Seiten, es ist der Tag nach der OP, aber es begeistert mich, fast jeder Satz wirft mich um, und ich denke mit Verzweiflung an meine eigenen Projekte. Ich hab dreieinhalb Romane angefangen in den letzten Jahren, einen Jugendroman, einen in der Wüste spielenden Krimi mit B-Picture-Plot und einen Stimmenroman, zuletzt noch ein Konzept eines SF-Romans, eine Hommage an Philipp K. Dick. Die ersten drei haben alle schon Anfang und Ende und jeweils zwischen 300 und 600 Seiten, aber nichts davon ist geordnet, richtig zusammengefügt oder überarbeitet. Diese Überarbeitung habe ich die letzten Jahre immer wieder in Angriff genommen und mich in immer neuem Material verloren, im jugendlichen Bewußtsein, noch ewig zu leben. Könnte jemand das für mich fertigschreiben? Passig? Lars? Irgendwer? Wollten sie?
Alles vergeblich, mit meinen Fragmenten wird niemand etwas anfangen können. Ich hoffe, daß Passig oder Lars wenigstens in der SF-Idee etwas Brauchbares entdecken können, und überlege angestrengt, wie die anderen Dateien zu vernichten seien. Das Eingeständnis der kompletten Sinnlosigkeit des eigenen Lebens. Nichts Neues, aber so grauenvoll war es selten.
Als ich am nächsten Tag DeLillo weiterlesen will, erinnere ich mich an nichts. Was macht Lee Harvey Oswald in Rußland? Wie ist er da hingekommen? Wer ist der Mann? Alles, was ich tags zuvor unter größter Anstrengung begeistert gelesen habe, ist von meiner Festplatte gelöscht. Auf hundert Seiten erkenne ich keinen Satz. In Panik hole ich Primo Levi raus, den ich ebenfalls tags zuvor, aber etwas später gelesen habe, und da weiß ich beim ersten Satz sofort: Wenn er jetzt nach links guckt, steht da der SS-Mann. Glück gehabt. Es ist noch immer die Narkose, nicht das Hirn.
Auschwitz-Lektüre überhaupt das Aufbauendste von allem. Sogar das Essen schmeckt danach doppelt so gut.
Die Histologie verschiebt sich immer weiter, am 25.2. ist es soweit: Prof. Moskopp erklärt, es sei ein Glioblastom. Das ist etwas Gehirneigenes, das bildet keine großen Metastasen, wächst nur sehr schnell, läßt sich nicht endgültig bekämpfen und ist zu hundert Prozent tödlich.
Ich höre kaum zu. Während Prof. Moskopp redet, fällt mir ein, daß ich mich nie wieder verlieben werde, nie wieder wird sich jemand in mich verlieben. Stinkend und krebszerfressen.
Könnten Sie den letzten Satz noch mal wiederholen?
Abends gehe ich mit C. aus, ich habe Lust auf Kino, und im Friedrichshain läuft A Serious Man. Weil noch viel Zeit ist, laufen wir durchs Viertel, und wir machen etwas, was ich sonst zuletzt vor zwanzig Jahren gemacht habe: Unangemeldet Leute besuchen. Bei Holm sind überraschend alle versammelt, und fast alle gehen auch nachher mit ins Kino, und es ist einer der schönsten Tage überhaupt. Auch einer der schönsten Filme. Ich lehne mich zu C. rüber und erzähle ihr, wie glücklich ich bin, und es ist keine Lüge. Ich bin unfaßbar glücklich, solche Freunde zu haben.
Da ich außer Paracetamol und Cortison keine Tabletten genommen habe, ist es ein offenbar körpereigener Drogennebel, den mein Hirn da gnädig ausschüttet, und ich bin jetzt wach genug, es als Kontrollverlust zu erleben. Ich spüre, daß ich nicht mehr Herr im eigenen Haus bin, aber wenn es so schön ist, habe
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