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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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mich zu Fuß auf den Weg. Es kann nur noch zwei, drei Straßen bis zur Pasteurstraße sein.

    Beim Gehen überwältigt mich das Bedürfnis, den Passanten mit der Hand ins Gesicht zu schlagen, ihnen die Mützen vom Kopf zu zerren, und ich weiß nicht, wer den Befehl dazu gibt. Ist es der Störer oder die Vernunft? Einer ist dafür, einer dagegen, aber wer? Auf den ersten Blick scheint der Impuls von der Störinstanz zu kommen. Leute ins Gesicht schlagen ist eindeutig irre. Aber wenn ich alle Leute ins Gesicht schlage, kommt mit Sicherheit die Polizei, und das wäre die Rettung, das ist ja genau das, was ich will, daß die Polizei kommt, und insofern ist es vielleicht eine List der Vernunft, die unter dem Deckmantel der Störinstanz meine Rettung plant.

    Allerdings würde ich dadurch auch erneut – und vielleicht endgültig – aufgehalten und käme nie ans Ziel, an den Ort meines größten Triumphes, und bin möglicherweise auch wieder vollkommen und endgültig verrückt.

    Immer wieder muß ich von tief unten den Gedanken heraufholen, daß ich bereits in der Nähe von Holms Wohnung bin und daß ich nur irgendwie dorthin gelangen muß und dann andere da sind, die es vielleicht besser wissen, und daß ein Publikum dort wartet auf die Zauberkunststückchen, die ich von meinem Gehirn aus vorführen will und für die ich ja auch Beweise habe und die der eigentliche Grund sind, warum ich überhaupt zu Holm wollte, deshalb hatte ich ja alle eingeladen, wie konnte ich das vergessen. Ich habe die Weltformel vielleicht nicht gefunden, aber diese Endlosschleife, diesen Roman in Form einer Endlosschleife, diesen Text, der mich so glücklich und verzweifelt macht und der sich selbst und alles andere und die ganze Welt erklärt, also vielleicht doch die Weltformel – und daß ich bei Holm gerettet bin. Ich darf nur keinen falschen Schritt machen.

    “Auf rohen Eiern zu Holm” ist der Satz, der mir schließlich einfällt, und ich versuche ihn durch eine abermals laut gesprochene Endlosschleife in meinem Kopf als den einmal richtig gefaßten Entschluß festzutackern, den ich jetzt nicht wieder aus den Augen verlieren und bis zu dessen Verwirklichung ich auch erstmal keine anderen Entschlüsse mehr fassen darf, und ich presse meine Arme fest an den Körper und gehe auf rohen Eiern zu Holm, auf rohen Eiern zu Holm, auf rohen Eiern zu Holm, die ganze schrecklich lange Pasteurstraße hoch, auf rohen Eiern zu Holm, und tatsächlich stehe ich irgendwann vor seiner Tür.

Rückblende, Teil 9: Tanz der seligen Geister : 

    Bei Holm versuche ich als erstes, herauszufinden, ob ich einen verrückten Eindruck mache und befrage die Leute dazu, ergänze selbst, ich sei bis vor acht Sekunden noch verrückt gewesen, jetzt aber nicht mehr.

    Irritierend ist, daß niemand etwas von mir zu erwarten scheint. Es herrscht eine der Auffindung der Weltformel ganz unangemessene Atmosphäre. Alle stehen nur herum, haben Gläser in der Hand und machen Smalltalk. Ich höre sie Sätze sagen, die ich Sekundenbruchteile vor ihnen gedacht habe, ich spüre, welche Gesten sie im nächsten Moment machen werden. Meine Gabe, in die Zukunft sehen zu können, bestätigt sich glanzvoll, und mir fällt wieder ein, daß ich meinen Text vorlesen muß. Ich rufe alle im Wohnzimmer zusammen und nehme selbst am großen Tisch Platz. Meine Vernunftinstanz landet einen letzten Treffer, indem ich bitte, die Kinder aus dem Raum zu schicken. Ich kann noch erkennen, daß das, was ich jetzt tun werde, nicht mehr jugendfrei ist. Aber es nicht zu tun, ist mir unmöglich.

    In meinem Moleskine suche ich nach dem Text. Mir ist bewußt, daß ich ihn selbst noch nicht gesehen habe, ich spüre aber auch, daß ich ihn quasi hinter meinem eigenen Rücken aufgeschrieben habe, so daß er gleich auf wunderbare Weise vor meinen Augen erscheinen wird.

    Als es weder am Ende noch am Anfang noch in der Mitte des Notizbuchs einen geeigneten Text gibt, weiß ich, daß die Störinstanz ihn abermals vor mir verborgen hat. Habe ich die Seiten wieder herausgerissen? Am wahrscheinlichsten scheint es mir, daß der Text zu Hause auf meinem Rechner liegt in einer versteckten Datei. Ich äußere diese Vermutung und verlange, sofort zu meinem Rechner gebracht zu werden.

    Niemand reagiert. Ich fange an zu schreien, werfe das Moleskine durch den Raum, und was weiter geschieht, weiß ich nicht. Einmal zwischendurch, ich glaube, ganz am Anfang, bitte ich auch Holm, mich vor seinen Rechner zu setzen, damit ich

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