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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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geht.
    3. Das beruhigt meine Freunde.
    4. Sie machen sich keine Sorgen mehr.
    5. Sie denken, daß es mir gut geht und freuen sich für mich.
    6. Sie mögen mich.
    7. Aber das haben sie auch schon vorher getan.
    8. Wie ich an ihrem Verhalten mir gegenüber während meiner Krankheit ja auch problemlos erkennen konnte.

    Wieder habe ich ungeheure Schwierigkeiten, die Worte zu notieren, besonders aufreibend ist Punkt 6 und da besonders das Pronomen “mich”, das erneut nur unter Schreien und Zucken auf dem Papier erscheint.

    Die Qualität und Stimmigkeit der endlich gefundenen Erkenntnis übt eine starke seelische Beruhigung auf mich aus; die allerdings rasch übergeht in die panische Angst, das rettende Notizbuch, dessen Inhalt ich mir nicht merken kann, könnte aus Versehen verlorengehen.

    Ich male deshalb eine weitere 1 vor den Finderlohn. Weil mir 1150 Euro selbst ein wenig sonderbar anmuten, schreibe ich in Klammern noch “kein Witz” dahinter; und noch während ich versuche, mich auf diese Weise gegen einen Verlust abzusichern, wird mir plötzlich klar und immer klarer, daß auch nicht die geringste Gefahr besteht, das Moleskine aus Versehen zu verlieren. Sondern daß ich selbst es bin, der die Aufzeichnungen vernichten wird, so wie ich tags zuvor schon die ersten Seiten der großen Rede aus dem Buch herausgerissen habe, die, und das fällt mir jetzt wieder ein, dieselben wichtigen Gedanken und Logikketten auch schon enthielten.

    In diesem Moment glaube ich, endgültig verrückt zu werden. Ich weiß nicht, wie ich mich vor der Störinstanz in meinem Innern schützen soll. Erst der in den frühen Morgenstunden auftauchende Gedanke, das Buch zum Copyshop zu tragen, drei vollständige Kopien zu erstellen und Kathrin und Kirk und einem noch zu grabenden Loch in der Erde je ein Exemplar zur Aufbewahrung zu übergeben, beruhigt mich zuletzt. Dieser Idee gegenüber ist die Störinstanz machtlos und gibt sich geschlagen, und ich lege mich ins Bett. Es ist der 6. März, 7:42.

Rückblende, Teil 7: Die Weltformel : 

    Was weiter geschieht an diesem 6. März, läßt sich aus Aufzeichnungen, Erinnerungsfragmenten und Berichten von Freunden mit einiger Mühe rekonstruieren.

    Zwischen den Notizen “Copy Shop und Ende, 7:42” und “Alles ausanalysiert und ready to go: 14:20” liegen knapp sechs Stunden, in denen ich vermutlich in meiner Wohnung herumgehe, lese, schreibe und nachdenke.

    Was mich verwirrt und worauf meine Gedanken immer wieder zurückkommen, ist, daß die gefundenen Trostformeln sich überhaupt nicht mit meiner Angst vorm Tod beschäftigen, sondern mit der Angst, nicht geliebt zu werden; weshalb ich in einfältigen, starren Gedankenketten immer wieder die Zuneigung meiner Freunde zu mir logisch herleiten muß.

    Ich lese den Wikipedia-Artikel zum Thema Narzißmus und komme zu dem Ergebnis, daß es sich in Wahrheit überhaupt nicht um unterschiedliche Ängste handelt, sondern um eine einzige: Der Tod ist schließlich nichts anderes als die Mitteilung des Universums an das Individuum, nicht geliebt zu werden, die Mitteilung, nicht gebraucht zu werden, dieser Welt egal zu sein.

    Diese Erkenntnis ist ungeheuer befriedigend. Um 15:14 Uhr verfasse ich eine Mail an Jochen, um ihn gesondert für den Abend einzuladen, weil ich spüre, daß er mit seinem Narzißmus an meinem Zustand am dichtesten dran ist. Ich fürchte, meine Verrücktheit könne ihn anstecken, und ahne die Gefahr, ihn als auf die Ironie angewiesenen Lesebühnenautor dieser Ironie für immer zu entfremden. So wie ich mich ihr für immer entfremdet habe.

    Gleichzeitig plane ich, meine Rede, die mittlerweile den Titel “Narzißtische Persönlichkeitsstruktur und Todesangst – Vortrag von Wolfgang Herrndorf” trägt, mit einem Nachruf auf Salinger zu verquicken und alles an Ijoma Mangold zu schicken. Salinger, weil ich mich über die kenntnislosen Nachrufe der letzten Wochen entsetzlich geärgert habe; und Mangold, weil ich sonst niemanden kenne aus dem Feuilleton.

    Um 17:01 sitze ich in dem Restaurant Kamala in der Oranienburger Straße und habe von der großen Rede noch immer kein Wort geschrieben, was mir angesichts der Geschwindigkeit, mit der ich nun unterwegs bin, wenig Kopfzerbrechen bereitet. Während ich aufs Essen warte, schreibe ich probeweise eine Seite in mein Moleskine, und die Sätze schießen nur so heraus. Kontrollblick: makellose Prosa. Blick auf die Uhr: noch immer 17:01. Ich rechne das Tempo, in dem ich jetzt arbeite,

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