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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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    Während ich “vermutlich alles sinnlos” denke, fühle ich, daß ich sterbe. Ich stehe in meiner Küche, achte auf meinen Körper, sacke zu Boden und stelle fest: es tut nicht weh, es geht mir sogar gut. Ich sacke ins Nichts, und das Nichts hat einen PVC-Boden, interessant – und was passiert jetzt? Oha! Es geht weiter. Und wie geht es weiter? Ist das das Jenseits? Nein, ich stehe schon wieder in meiner Küche. Und es geht wieder von vorne los, da ist er wieder, der erste Satz, es wiederholt sich alles, das ist also der Tod! Ich habe die Weltformel gefunden, furchtbar, die Weltformel ist ein Zirkelschluß, wir kreisen ewig in einer Schleife, Hölle, und jetzt kommt der Text schon wieder, mein Text, der große Text. Aber vielleicht ist es ein literarischer Text? Ja, natürlich, das ist die Rettung: Ich bin in meinem eigenen Text, deshalb tauchen auch dauernd Versatzstücke meiner anderen Texte auf, ich kann ihn aufschreiben, ich habe ihn schon aufgeschrieben, er steht in meinem Kopf, ich schreibe ihn jetzt in mein Moleskine, dann fahre ich zu Holm und lese ihn vor, ich muß zu Holm, ich muß dringend zu Holm, ich darf jetzt nicht sterben, ich muß aufpassen, daß ich es dorthin schaffe, ohne zu sterben, große Gegenkräfte versuchen, mich davon abzuhalten, versuchen, mich von der Verkündung meiner Erkenntnisse abzuhalten, ich muß gleich los, sonst werden die Gegenkräfte zu stark, ich muß sofort los, Taxi reicht nicht, dann müßte ich erst die Haarschneidemaschine weglegen und säubern und dann duschen, in dieser Zeit siegt die Gegenkraft, die behauptet, ich könne in diesem Zustand nicht unter Menschen, ich laufe lieber sofort los, wo der Entschluß noch frisch ist, ich laufe nackt und mit halbgeschorenem Schädel zu Holm.

    Ich komme bis zur Türschwelle. Dann wird das Bewußtsein des eigenen Verrücktseins wieder gestärkt durch den Gedanken: Nur Verrückte laufen nackt durch die Straßen, und ich gehe zurück unter die Dusche, ziehe mich an und stolpere hinaus. Auf der Torstraße halte ich ein Taxi an. Der Fahrer ist ein junger, belesener Ausländer, und ich unterhalte mich mit ihm sehr gebildet über Proust und Dostojewskij. An seinen empathischen Reaktionen erkenne ich: Es ist alles in Ordnung, ich benehme mich wie ein normaler Mensch, ich entwickle sogar gerade einen sehr interessanten Gedanken über die Psychologie Prousts und womit Proust mich am meisten beeindruckt hat.

    Und dann triggert der Fahrer unbeabsichtigt den nächsten Anfall: Ich habe die Dämonen von Dostojewskij empfohlen, er empfiehlt im Gegenzug Fernando Pessoa, und meine Gedanken laufen wie folgt: Ich werde Pessoa nicht lesen, mein Leben ist zu kurz, ich lese nur noch Bücher, die wirklich gut sind, diesen Pessoa kenne ich nicht, kann sein, daß das gut ist, kann aber auch sein, daß ich damit meine Zeit verschwende, ich kann mich auf das Urteil eines mir unbekannten Taxifahrers nicht verlassen, also lese ich das nicht, ich werde Pessoa niemals lesen, mein Leben ist zu kurz, zu kurz – Panikanfall.

    Wobei der Anfall weniger in der Bewußtwerdung meines kurzen Lebens besteht als in der ungeheuren, wachsenden Angst, Holms Wohnung niemals zu erreichen unter den unendlichen Störmanövern der Gegenseite.

    Ich bitte den Fahrer, mich an der angegebenen Adresse noch bis zur Haustür zu bringen, weil ich weiß, daß ich es allein nicht schaffe, und er lehnt ab. Wenigstens bis zur Türklingel unten: Er lehnt ab. Ich hole mein Portemonnaie raus und biete ihm alles Geld, das ich dabeihabe, wenn er mich bis zur Tür begleitet, etwa 300 Euro: Er lehnt ab. Ich sage, er soll nicht erschrecken, aber ich würde mich nun gleich an seinem Arm festhalten.

    Er bremst auf der Greifswalder Straße, will acht Euro fünfzig und fordert mich auf, aus seinem Taxi auszusteigen. Ich bitte ihn, die Polizei zu rufen oder Sanitäter. Er sagt, er habe kein Telefon, und verlangt acht Euro fünfzig. Ich wiederhole meine Bitte, er zeigt auf einen Kiosk am Straßenrand und behauptet, dort gebe es ein Telefon. Ich frage, ob er dort für mich die Polizei rufen könne, weil ich weiß, daß ich es nicht kann, und der Taxifahrer verspricht es, will aber zuvor sein Geld. Ich gebe ihm acht Euro fünfzig und steige aus. Er schließt die Tür hinter mir und fährt davon.

    Gelähmt von Angst stehe ich auf dem Bürgersteig und versuche gar nicht erst, den Kiosk zu betreten. Mir ist wieder eingefallen, daß man in Kiosken nicht telefonieren kann. Schließlich mache ich

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