Arcanum – Das Geheimnis
den Schwanz biss.
Damit schloss sich der Kreis seines eigenen Lebens. Acatl ging so weit, bis das warme Wasser des Meeres seine Knie erreichte, und die jähe Erkenntnis, dass er diesen Moment des Glücks zum letzten Mal erlebte, ließ ihn noch einmal innehalten.
Das Floß schaukelte in der leichten Dünung vor ihm, und das weiße Segel blähte sich sanft im Wind. Die vier Priester und Gefährten, von denen jeder König eines anderen Stammes war, standen schweigend in gebührendem Abstand hinter ihm am Strand.
Er nickte jedem Einzelnen von ihnen dankbar zu und verweilte mit einem Lächeln bei Kolibrifeder. Dann verstaute er die goldene Scheibe auf dem Floß, setzte sich selbst dicht hinter das Segel und stieß das Paddel mit aller Kraft in die unruhige See. Acatl wusste, dass er den Boden seiner Ahnen nie mehr betreten würde. Er schaute nicht zurück.
Kolibrifeder blickte ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war, verstaute das tönerne Negativ der Scheibe, das die Sonne inzwischen getrocknet hatte, in ihrem Beutel und begab sich mit den anderen auf den beschwerlichen Heimweg.
Acatl hatte weder Vorräte noch Wasser mitgenommen. Nach zwei Tagen und Nächten auf seiner schwimmenden Nussschale war seine Zunge vor Durst geschwollen, und die Haut verbrannt von der Sonne. Der dritte Tag neigte sich bereits, als ein großer, weißer Hai sein Floß zu umkreisen begann.
Vielleicht hatte er immer unrecht gehabt. Vielleicht war der Hai ein Gott wie alle anderen Götter auch, der entgegen seiner Überzeugung sein Blut für das Leben der ungeborenen Generationen einforderte.
Kam Tezcatlipoca in Gestalt des Haies? Konnte er ihn durch das Opfer seines Lebens täuschen, damit sein Plan gelänge?
Er war bereits jenseits aller Schmerzen, und so ließ er sich mit letzter Kraft ins Wasser gleiten. Als sich das Meer um ihn rot färbte, schaute Acatl voll Ehrfurcht in die untergehende Sonne, in die Richtung seines Ursprungs, seiner Ahnen und seiner Vergangenheit. Mit seinen letzten Atemzügen drehte er sich, so gut es ohne das abgerissene Bein ging, nach Osten, in Richtung der aufgehenden Sonne und der Zukunft und betete, dass das Opfer der Völker seiner Heimat nicht umsonst sein möge.
Die Einsamkeit und der nahe Tod ließen ihn erschaudern. Er sah wieder den dunkelhäutigen Mann vor sich, der ihn von den Träumen seiner Kindheit an immer begleitet hatte, und mit einem Mal verstand er.
Der Mann lächelte ihn an, und auch in diesem Lächeln waren Freude und Schmerz alles Lebendigen, wie in den Augen einer gebärenden Frau.
Acatls Lippen formten die Worte in der ihm unbekannten Sprache:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Er sah eine Schlange, die sich um den Leib des Mannes wand. Eine jähe Erkenntnis erschreckte ihn bis ins Mark. Der Priester jenseits des Meeres, der in einer fernen Zukunft seine Botschaft erhalten und sich selbst der Löwe nennen würde, könnte das Unheil nicht aufhalten. Die Verzweiflung darüber schnürte ihm die Kehle zu. Dann versank er an diesem Ort ohne Namen und sein Geist erlosch.
Das Floß erreichte nach neun Jahren mit dem Golfstrom die Westküste Schottlands. Von dort fand die goldene Scheibe den Weg in ein unbedeutendes Kloster, dessen Abt nach einer Vision das geheimnisvolle Kunstwerk als göttliche Botschaft vom äußersten Rand der Erdscheibe bezeichnete.
Er schickte das wertvolle Artefakt mit den unbekannten Zeichen und dem eigenartigen Kruzifix in der Mitte an seinen Bischoff nach Canterbury.
Von dort fand es auf verschlungenen Pfaden schließlich unbeirrt im Jahre 1019 nach Rom und in die Schatzkammern des Papstes. Die Scheibe wurde eingehend untersucht, und man erkannte auf der Rückseite eine Karte, die einen Kontinent zeigte jenseits des Randes der bekannten Welt. Man fertigte Zeichnungen an, die heimlich kopiert die Bibliothek der berühmtesten Seefahrerschule der alten Welt, die escola nautica in Sagres, erreichten.
Exakt fünfhundert Jahre später, am einundzwanzigsten April des Jahres 1519, betrat Hernan Cortes in Ulua den Boden Mexikos. Damit begann der Untergang der aztekischen Hochkultur. Den Erfolg seiner lächerlichen Armee verdankte Cortez den weißen Segeln seiner Schiffe und einer Legende, die besagte, dass Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, die vor vielen Generationen eine geheimnisvolle Reise über das Meer angetreten hatte, auf weißen Schwingen über das Meer zurückkehren werde.
Die Seuchen, die die Spanier aus der alten Welt
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