Arcanum – Das Geheimnis
vor sich zu sehen, die die Todgeweihten einzeln über den blutverkrusteten Opferstein spannten. Er sah wie die Sklaven entsetzt von der unabwendbaren Gewissheit des eigenen Todes, im letzten Augenblick, bevor das Bewusstsein erlosch, ihr schlagendes Herz in den Händen des Priesters anstarrten. Dieser hatte es mit einem schnellen Schnitt unter dem Rippenbogen aus der Körperhöhle befreit, um es zuckend in die Glut der Kohlebecken zu werfen.
Am Fuß der Pyramide wuchs ein schauriger Berg aus blutüberströmten Leibern in den Himmel.
Acatl meinte, ihm steige noch einmal der widerliche Geruch in die Nase aus Angstschweiß, Blut und den Exkrementen derer, die in Todesangst ihren Darm entleerten. Mit der Erinnerung an den beißenden Gestank kehrte für einen Augenblick das ganze Grauen seiner Kindheit zurück.
Sein Onkel hatte ihn ohne Wissen seines Vaters im Alter von fünf Jahren zur Teilnahme an den Opferritualen gezwungen, um jedes Mitleid in ihm frühzeitig im Keim zu ersticken und erreichte damit genau das Gegenteil.
Acatl litt schon in seiner Erinnerung körperliche Qualen.
Am meisten erschrak er aber über sich selbst, über die perverse Faszination des Schauspiels, derer er sich auch damals nicht gänzlich entziehen konnte.
Tulum war ein Spiegelbild der menschlichen und ebenso seiner archaischen Seele, die hinter der Fassade der Zivilisiertheit die eines Raubtieres geblieben war.
Er öffnete abrupt die Augen und der Tagtraum wich der Schönheit des Augenblicks. Ein Morgen wie dieser war ein unschuldiger Neubeginn wie die Geburt eines Kindes. Er war Vergebung und die damit verbundene Verpflichtung diese Unschuld selbst oder wenigstens die Sehnsucht nach ihr für immer zu bewahren.
Er wandte sich zum Gehen. Die Sonne hatte den Tau bereits getrocknet und den Boden aufgeheizt. Jeder seiner Schritte wirbelte eine kleine Wolke des grauen Staubes auf, der nun begann, seine Zehen und die Beine bis zu den Knien wie Puder zu bedecken. Er trug keine Sandalen, und als er den Sandstrand erreichte, der in einem grellen Weiß die Sonnenstrahlen zurückwarf, kniff er geblendet die Augen zusammen. Er sank mit jedem Schritt bis zu den Knöcheln ein.
Der Sand rann ihm mit einem kitzelnden Reiben zwischen den Zehen hindurch. Das leise Rauschen des Meeres ging allmählich in das Tosen der Brandung über, je näher er der Wasserlinie kam. Die Wellen schlugen dumpf gegen die Felsen, die den Strand auf beiden Seiten einfassten, und die Gischt bedachte seine Lippen mit einem intensiven Salzgeschmack.
Alles in ihm war ein stummer Schrei, seinen Plan aufzugeben und diesen Ort, diese greifbare Wirklichkeit, für immer festzuhalten. Er hatte Angst.
Dann schritt er durch das Tor der Zeit. Ein Mann und eine Frau saßen vor ihm im Sand und hielten sich an den Händen.
Er erwiderte ihr Lächeln. Die Frau trug die Feder und damit die Bürde, die er ihr auferlegt hatte. Sie konnte nur von Frauen getragen werden, weil alleine in ihnen neues Leben entstand, das die größte aller Freuden mit dem größten Schmerz, dem Schmerz des Todes, verband. Alles würde gut werden, denn sie war nun die Gefährtin an der Seite ihres Mannes. Er erinnerte sich, dass auch den anderen dunkelhäutigen Mann aus seinen Träumen eine Frau begleitete. Sie stand weinend zu seinen Füßen, die von jenem geheimnisvollen Stamm hingen, an den man ihn geheftet hatte.
Diese beiden Menschen, die vor ihm im Sand saßen, würden die Linie der Gemeinschaft weiterführen. Sie gaben ihm die Kraft, sein Leben loszulassen. Bevor Acatl das Wasser erreichte, legte er sich noch einmal in den warmen Sand, schloss die Augen und breitete die Arme aus. Sein Körper formte ein dunkles Kreuz auf dem hellen Untergrund und die vier Priester stellten sich einem alten Ritual folgend jeweils rechts und links seines Hauptes und auf der Höhe seines Nabels auf, der die Mitte aller Lebewesen markierte. Kolibrifeder stand zu seinen Füßen und weinte. Sie erhoben die Hände zum Himmel, und dann ertönte der leise Gesang ihrer Gebete.
Acatls Puls verlangsamte sich. Sein Herz blieb für einen langen Augenblick stehen. Es fühlte sich an, als würde er schweben. Er verlies seien Körper und seine Vergangenheit fiel von ihm ab unter den Strahlen der Sonne, deren Wärme ihn durchdrang.
Schließlich öffnete er die Augen und erhob sich andächtig. Er trug den Armreif, den sein Vater ihm vor so vielen Jahren in die Wiege gelegt hatte. Auf ihm war das Symbol der Zeit:
Die Schlange, die sich in
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