Armageddon 01 - Die unbekannte Macht
bewachte ihre Privatsphäre äußerst rigoros. Selbst Ione hatte lediglich ein paar formelle Treffen mit den Kiint hinter sich, und beide Seiten hatten sich auf den Austausch belangloser Höflichkeiten beschränkt. Eine Erfahrung, die für Ione genauso unangenehm gewesen war wie die zahlreichen Treffen mit irgendwelchen menschlichen Botschaftern. All die vielen Stunden verschwendeter Zeit mit halb senilen Langweilern …
Ione war noch nie zuvor bei den Kiintgebäuden gewesen, und sie wäre wahrscheinlich auch niemals auf den Gedanken gekommen. Doch diese Gelegenheit rechtfertigte ihren Besuch, das spürte sie deutlich, selbst wenn sie sich wegen des Bruchs der Etikette aufregten.
Ione stand auf der Oberkante der Klippe und blickte auf die großen weißen Xenos hinunter, die im flachen Wasser badeten. Von ihrem Aussichtspunkt aus sah sie jede Menge fröhliches Herumplanschen.
Dreißig Meter weiter gab es einen breiten Weg aus grober Erde, der zum Strand hinunterführte. Ione setzte sich in Bewegung.
– Wie kommen sie eigentlich jeden Tag auf den Campus des Projekts? fragte sie in plötzlicher Neugier.
– Zu Fuß. Nur Menschen verlangen mechanisierte Transportmittel, um von einem Zimmer zum anderen zu gelangen.
– Meine Güte, wir sind heute aber wirklich empfindlich, was?
– Ich weise noch einmal darauf hin, daß garantierte Abgeschiedenheit ein wichtiger Bestandteil der ursprünglichen Übereinkunft zwischen den Kiint und deinem Großvater gewesen ist.
– Ja, ja, entgegnete Ione ungeduldig. Sie hatte das untere Ende des Pfades erreicht und zog jetzt ihre Sandalen aus, um über den Sand zu laufen. Der Frotteeumhang, den sie über ihrem Bikini trug, flatterte lose im Wind.
Im Wasser spielten drei Kiint: Nang und Lieria, ein Paar, das in der physiologischen Abteilung des Projekts arbeitete, und ein Baby. Tranquility hatte seine Geburt gemeldet, sobald Ione an diesem Morgen aufgewacht war, doch die Habitat-Persönlichkeit hatte sich geweigert, ihr die Bilder von der Geburt zu zeigen, die sich irgendwann im Verlauf der Nacht ereignet hatte. – Hättest du es gerne, wenn irgendwelchen Xenos Aufzeichnungen deiner Niederkunft vorgespielt würden, nur weil sie bodenlos neugierig sind? hatte Tranquility streng gefragt.
Ione hatte sich mehr oder weniger verärgert gefügt.
Das Kiint-Baby war ungefähr zwei Meter lang und besaß einen rundlicheren Körper, etwas weißer als seine Eltern. Die Beine waren einen Meter hoch, der Kopf des Kleinen auf Höhe von Iones Gesicht. Es amüsierte sich ganz eindeutig königlich im warmen Wasser. Seine traktamorphen Arme veränderten die Form mit irrsinniger Geschwindigkeit: zuerst Schaufeln, dann Paddel, die gewaltige Wasserfontänen verspritzten, dann birnenförmige Hülsen, aus denen das Wasser eng gebündelt schoß. Der Schnabel öffnete und schloß sich ununterbrochen.
Die Eltern streichelten und tätschelten das Kind mit den Armen, während es in Kreisen umhertollte. Dann erblickte es Ione.
– Panik. Alarm. Ungläubigkeit. Ding hat nicht genügend Beine. Stolpergang. Fallen nicht. Warum, warum, warum? Was ist das?
Ione blinzelte wegen des plötzlichen Ansturms von wirren Emotionen und hektischen Fragen, die in ihr Bewußtsein gebrüllt wurden.
– Das soll dich lehren, dich an fremde Entitäten anzuschleichen, sagte Tranquility trocken.
Das Kiint-Baby drängte sich rückwärts an die Flanke Lierias, um sich vor Ione zu verstecken.
– Was ist das? Was ist das? Furcht. Fremdartigkeit.
Ione bemerkte einen kurzen Austausch mentaler Bilder, die von den erwachsenen Kiint zu dem Baby flossen, einen Strom von Informationen, der komplexer war als alles, was sie jemals zuvor erlebt hatte. Die Geschwindigkeit war verwirrend: Es war vorbei, noch bevor es richtig begonnen hatte.
Sie blieb mit den Füßen im warmen, klaren Wasser stehen und verneigte sich vor den beiden Erwachsenen. – Nang, Lieria, ich bin gekommen, um meine Glückwünsche zur Geburt eures Kindes auszusprechen und zu fragen, ob das Kleine besondere Bedürfnisse hat. Ich bitte um Entschuldigung, falls meine Anwesenheit unerwünscht ist.
– Ich danke dir, Ione Saldana, sagte Lieria. In ihrer mentalen Stimme war ein Anflug feierlicher Amüsiertheit. – Dein Interesse und deine Besorgnis sind erfreulich, eine Entschuldigung ist völlig unnötig. Dies ist Haile, unsere Tochter.
– Willkommen auf Tranquility, Haile, sagte Ione zu dem Kleinen und legte soviel Wärme und Freude in den Gedanken, wie sie nur
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