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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Senzel
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gestiegen. 5,3 Milliarden Euro haben die Krankenkassen im Jahr 2009 allein für die Behandlung von Depressionen ausgegeben. Schwermütige, melancholische und vom Leben erschöpfte Menschen gab es schon immer – die Depression als Massenphänomen aber ist neu. Weil immer mehr Menschen offenbar das rasante Tempo unserer Zeit nicht mehr mithalten können. In klugen Essays wird deshalb immer wieder Entschleunigung als wahrer Fortschritt gefordert. Sicher: 240 Stundenkilometer stressen mehr als Tempo 80. Aber ob ein ICE-Lokführer seinen ergonomischen Sessel gegen den schmutzigen, lauten, zugigen Führerstand einer Dampflok tauschen möchte? Schneller heißt auch bequemer, alles in allem. Und deshalb wird es keine Entschleunigung geben, die Welt wird sich eher noch schneller drehen. Entschleunigung ist weder machbar, noch wünschenswert – hat kürzlich der sogenannte Popliterat Sascha Lobo geschrieben. Und stattdessen eine Kultur des Verpassens gefordert. Was sofort einleuchtet, wenn ich an einen
Abend auf meinem Boot zurückdenke. Ein Mann in der Einsamkeit der Natur. Ich hatte Anker geworfen vor Schweinesand, saß in der Kajüte vor dem Computer und loggte mich drahtlos ins Internet ein. Muss ja nie allein sein mit meinen 138 Freunden bei Facebook. Rainer hat seinen Flug nach Rom verpasst und ist stinksauer – Petra hat heute endlich mal ihre Küche geputzt – und Jochen geht mit einer Grippe und seinem Lieblingsbuch früh ins Bett. Das kann ich nun kommentieren, oder meine Anteilnahme mit dem »Gefällt mir«-Button bezeugen. »Mir ist soooo langweilig«, tippe ich. Petra gefällt das nicht.
    Es wird keine Entschleunigung geben, die Welt wird sich eher schneller drehen. Aber du musst dich ja nicht immer mitdrehen. Du darfst nur keine Angst haben, etwas zu verpassen.
    Drei bis vier Millionen Deutsche leiden derzeit unter einer mittleren bis schweren Depression, sagt das statistische Bundesamt. Jeden fünften erwischt es einmal im Leben. Es sind sicher auch deshalb so viele, weil sich die Leute heute eher trauen, mit psychischen Problemen zum Arzt zu gehen. Und die Mediziner sind inzwischen sensibilisiert, sie nehmen das Problem sehr viel ernster als früher. Manchmal ist die Diagnose Depression allerdings ein bequemer Ausweg: Findet sich beim Kassenpatienten nicht gleich eine körperliche Störung, muss es halt die Psyche sein. Rückenschmerzen, Gelenkbeschwerden, Magendrücken, Schlaflosigkeit, alles kann irgendwie psychisch sein. Oder psychosomatisch. Und die Qualität der Therapeuten ist nach Expertenansicht – zurückhaltend formuliert – sehr durchwachsen. Weil es keine Kontrolle
gibt, sodass sich Leidensweg und Therapie oft über Jahre hinziehen.
    Wie vielen würde wohl eher ein Arschtritt helfen als eine Therapie?
    Wie vielen würde wohl eher ein Arschtritt helfen als eine Therapie? Wie viele geraten trotz Behandlung immer tiefer in den Abwärtsstrudel von Verzweiflung und Lethargie? Wo verläuft die Grenzlinie zwischen behand-lungsbedürftiger psychischer Störung und einem vorübergehenden Depri, wie ich das nenne? – Jener Melange aus Niedergeschlagenheit, Trauer, Verlorensein, Angst und Einsamkeit, die fast jeden gelegentlich erwischt, weil Zweifel nun mal Teil des Lebens sind – und durch die man einfach durch muss? Bin ich krank, weil mich die großen Veränderungen des Lebens zuweilen überfordern und erschöpfen? Und bräuchte ich dann nicht eher einen, der mir Hühnersuppe kocht und meine Katze füttert – als jemanden der mich analysiert?
     
    »Mein Vater hat mich nie wahrgenommen. Er wollte immer einen Sohn. Und natürlich habe ich einen Mann geheiratet, der mich auch ignoriert …« Wie viele solcher Gespräche habe ich auf irgendwelchen öden Partys geführt. Leute, die eine Therapie machen, finden sich mit schlafwandlerischer Sicherheit. Und irgendwann sind immer die Eltern dran, wenn diese Leute sich unterhalten. Denn Eltern sind ein ganz großes Thema jeder Therapie. Das schlechte Gewissen, das sie uns bereiten, weil wir ihren Erwartungen nicht genügen, weil wir sie zu selten anrufen,
nie Blumen mitbringen und zu wenig Zeit für sie haben. Und weil sie bis heute nicht begreifen, was sie in unserer Kindheit alles falsch gemacht haben sollen. Aber womöglich ist das völlig normal in jeder Beziehung, in der so lange einer mehr gibt und der andere mehr nimmt. Dass der nehmende Teil sich missverstanden fühlt und grollt. »Und du glaubst nicht, dass dich das prägt bis heute?« Natürlich

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