"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
So ein federleichtes Teil, Wolle, so fein wie Seide und sündhaft teuer. Du läufst anders, gehst anders, fühlst dich anders in so einem Anzug. Es gab einige sehr viel preiswertere, bei denen ich dachte: »Geht doch.« Schließlich trage ich nicht so oft Anzüge. Aber ich war zu dem Schluss gekommen, dass »geht doch« in meinem Leben keine akzeptable Kategorie mehr darstellt.
Ich sah auch meine Liebesdramen mit anderen Augen. Ich war nicht beziehungsunfähig, wie ich immer befürchtete! Ich hatte bloß die Richtige noch nicht gefunden. Weil ich zuviel Zeit mit den Falschen verbracht hatte. Weil ich nicht allein sein wollte mit mir selbst. Es ist mir nie aufgefallen, dass ich zuweilen einen hohen Preis für mein Paarungsverhalten bezahlt habe. Immer auf der Hut war. Oder auf der Suche. Weil ich das frauenlose Dasein als Makel empfunden und alles darangesetzt habe, es so schnell wie möglich wieder zu beenden. Beobachtete
im Frühjahr neidisch die verliebten Paare im Park und verzehrte mich an kalten Winterabenden nach weiblicher Wärme und Nähe. All mein Denken kreiste darum, jemanden zu finden, mit dem ich die Nächte teilen und am Sonntagmorgen frühstücken konnte. Um dann ermüdende Kämpfe um Freiräume zu führen und Kompromisse und Gefälligkeiten auszuhandeln. Ich habe mich oft gefragt, ob ich womöglich eher in die Liebe selbst verliebt bin. Einem Ideal nachträume, statt mich auf Frauen aus Fleisch und Blut einlassen zu können. In der Eroberungsphase gab ich Gas ohne Ende und stellte Wunder was auf die Beine. Und wenn ich dann völlig erschöpft das Ziel erreichte, wurde mir klar, dass die Mühe eigentlich gerade erst angefangen hatte. Weil ich keine Ahnung hatte, wie ich jemals im Leben all die Erwartungen erfüllen sollte, die ich da geweckt hatte. Dass es voll und ganz genügt, einfach nur Holger Senzel zu sein wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Ich hätte lange auch nicht gewusst, wer das eigentlich ist.
Letztlich ist es gar nicht so schwer, sich selbst zu mögen. Du musst einfach aufhören, Rechtfertigungen für dein eigenes mieses Verhalten zu suchen. Nichts ver- und aufarbeiten, sondern die Dinge beim Namen nennen.
Es ist ja gar nicht so schwer, sich selbst zu mögen. Du musst einfach irgendwann aufhören, Gründe und Rechtfertigungen für dein eigenes mieses Verhalten zu suchen. Nichts ver- und aufarbeiten, sondern die Dinge beim Namen nennen. Dazu stehen, wenn du feige, gleichgültig, egoistisch warst. Es hinter dir lassen und deine Energie
daransetzen, es künftig besser zu machen. Dann kannst du auch deinen Mitmenschen nachsichtiger und vertrauensvoller begegnen. Damit leben, dass Menschen zuweilen einfach schwach sind. Und trotzdem wunderschön und faszinierend. Weil sie im Zweifelsfall eben auch sehr, sehr stark sein können.
Prost! Auf das Leben! Dabei habe ja nichts großartiges geleistet! Bin nicht aufgebrochen in ein neues Leben, sondern geblieben. Habe nicht den Rahmen gesprengt, sondern nur gründlich poliert. Das Bild darin ist im Großen und Ganzen dasselbe – aber ich betrachte es mit anderen Augen. Ich entdeckte Farben und Facetten, die ich vorher übersehen habe. Eine riesige Müllhalde aus Selbstmitleid, verpassten Chancen, Schwermut und Resignation hatten mir den Blick versperrt. Ich habe sie abgeräumt. Langsam und systematisch, Schäufelchen für Schäufelchen, ohne mich entmutigen zu lassen.
Ich bin ein paarmal gestrauchelt – aber auch schnell wieder aufgestanden und habe mit dem Ausmisten weitergemacht, bin mit klitzekleinen Schritten aus einem tiefen Tal auf einen hohen Berg geklettert. Ein paarmal habe ich kurz vor dem Gipfel aufgegeben – aber ich habe es immer wieder versucht und ihn am Ende erklommen. Das klingt pathetisch, wo ein gesundes, diszipliniertes Leben heute weitgehend Alltag für mich ist. Aber damals war es ein Berg. Und ich war sehr stolz, als ich oben war. Ich mochte meine Gesellschaft, das war ein gutes Gefühl. Ich hatte weniger Angst vor dem Leben, ich wusste ich würde es meistern. Ich konnte straucheln, aber würde nicht vom Weg abkommen.
Ich hatte in diesem Moment keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Von meinem Balkon blickte ich über die Dächer von Hampstead, hörte von fern leise die Ambulanzen jaulen, roch diesen typischen Geruch des Teppichbodens – und es lag bereits ein Stück Abschiedswehmut in diesem Moment. Ich hatte mich entschlossen, London zu verlassen, und wusste nicht, was mich in Hamburg erwartete. Aber ich
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