Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Denken.
Seither hat sich viel von dieser großen Kluft, die sich zwischen vernunftbegabten Menschen und vermeintlich unvernünftigen Tieren aufzutun schien, geschlossen. Ein Philosoph, der im Jahr 2014 behaupten würde, dass das Los der Tiere völlig irrelevant sei, würde mit einer Mischung aus Staunen, Entsetzen und vermutlich Bedauern angesehen. Anders als manch frühere Generationen von Biologen beschreibt auch die aktuelle Verhaltensforschung Tiere nicht vorrangig als Mängelwesen, die bloß weniger vermögen alsMenschen, sondern als Lebewesen mit eigenen Fähigkeiten, eigenen Kommunikationsformen, eigenen Problemlösungen – und eigenem Wert. Tiere sind empfindungsfähige Wesen mit eigenen Bedürfnissen und biologischen Kompetenzen. Als solchen steht ihnen offenbar ein Platz innerhalb der Moral zu; nur wissen wir nicht genau, welcher.
Doch selbst der Schweinebaron, der Ställe für 40.000 Tiere plant, und der Vertreter einer Bürgerinitiative für bäuerliche Landwirtschaft, selbst die radikale Tierrechtlerin, die nicht einmal eine Stechmücke erschlägt, und der Fleischesser, der dennoch nicht gerne die Rüssel an den Lüftungsschlitzen der Tiertransporte auf der Autobahn sieht – sie alle sind sich in einem Punkt einig: Ihnen ist das Wohl der Tiere nicht völlig egal. Die allermeisten Mitglieder unserer Gesellschaft meinen heute, dass man das Wohl von Tieren mitbedenken muss.
Daher lautet die wirklich interessante Frage der Tierethik eben nicht mehr wie in den 1980er Jahren: Sollen wir Tiere überhaupt in unsere ethischen Überlegungen einbeziehen?, sondern: Wie und wie weitgehend sollen wir sie berücksichtigen? Nicht: Haben sie Interessen?, sondern: Worin bestehen ihre Interessen, wie sieht ein vollständiges oder gutes Leben für Tiere aus, und inwieweit dürfen wir dies beeinträchtigen oder gar beenden? Wenn Tiere schließlich Rechte haben (sollen), heißt das, dass dies exakt dieselben Rechte wie die der Menschen sind, und kann man bei Tieren von einem Recht auf Freiheit sprechen?
Jeder, dem eine Sendung über leidende Puten auf den Magen schlägt, nimmt Tiere ernst und misst ihren Leiden moralische Relevanz bei. Vielleicht vergisst er das Gesehene bis zum nächsten Morgen; aber vielleicht erinnert er sich auch und fragt sich, was für ein Bild sich ergäbe, wenn er die Interessen der Tiere im Verhältnis zu seinen eigenen fairer, mitfühlender oder angemessener gewichten würde. Dieses Gewichten ist das Geschäft der Moral, das gründliche Nachdenkendarüber nennt sich Moralphilosophie; und genau das will ich dem Leser und der Leserin mit diesem Buch anbieten: nämlich einmal nicht von den kleinteiligen Vorgaben der Realpolitik her – wie viele Quadratmeter stehen einer Sau zu? – über diese Dinge nachzudenken, sondern sich von der Philosophie und ihrer Unterdisziplin Tierethik helfen zu lassen, ein vollständigeres Bild zu entwerfen. Gesucht wird also eine moralische Sichtweise, die unsere menschlichen Ansprüche und die von Tieren verbindet, sprich: die uns ermöglicht, vertretbare Entscheidungen gegenüber allen Beteiligten zu treffen.
Ich habe mich bemüht, dieses Buch sowohl allgemeinverständlich zu schreiben als auch so, dass seine Inhalte mit der fortgeschrittenen akademischen Tierethikdebatte auf Augenhöhe bleiben. Einiges an Beweislast habe ich daher in die Anmerkungen verschoben, die die Leserin und der Leser nach eigenem Gusto ignorieren können. Die Wörter «Moral» und «Ethik» werde ich gleichbedeutend verwenden, so wie wir es auch in der Alltagssprache zumeist tun. Gemeint ist damit jenes Denken und Handeln, bei dem wir die Interessen von anderen in unsere Entscheidungen miteinbeziehen, weil wir anerkennen, dass auch sie Empfindungen und Bedürfnisse haben und dass auch sie «zählen».
Dabei verstehe ich Tierethik nicht als eine Art Spezialwerkzeug für selten auftretende Sonderprobleme, sondern als Teil einer Ethik, deren Grundsätze sich auf das Leben von Menschen und Tieren anwenden lassen. Schließlich leben Menschen und Tiere in einer gemeinsamen (äußeren) Welt, und nun nehmen wir Tiere hinein in eine bisher uns Menschen vorbehaltene moralische Welt, deren Begriffe wir kennen, deren Regeln wir untereinander beherzigen, deren Ideale uns vertraut sind. Wer einem solchen Gedanken-Parcours folgt, setzt sich natürlich dem Risiko aus, einige liebgewonnene Überzeugungen über Bord werfen zu müssen. Übrigens nicht unbedingt die, von denen man das bereitsvorher ahnte.
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