Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Moral in Gang setzt, was jemanden veranlasst, andere mit zu berücksichtigen, ist ja dasselbe: Ob Mensch oder Tier, jeder von uns ist ein Zentrum bewusster Wahrnehmungen, besitzt seine subjektiven Empfindungen, Wünsche und Interessen. In der konkreten Ausgestaltung gibt es natürlich Unterschiede: Kühe wollen meistens am liebsten Gras fressen, Menschen können sich manchmal minutenlang nicht zwischen den Optionen einer mehrseitigen Menükarte entscheiden. Kühe schlecken einander mit der Zunge Kopf und Körper ab, verwenden einen sparsamen «Wort»schatz; wir Menschen hingegen gehen zusammen kegeln, treffen komplizierte Absprachen bezüglich der gemeinsamen Kinder, schreiben Romane und Gedichte.
Diese Unterschiede zwischen dem vermeintlich Simplen und dem eher Komplexen beschreiben jedoch keine Wertigkeiten. Jemand, der stark verfeinerte Vorlieben hat und diese sprachlich gut ausdrücken kann, genießt gegenüber jemand anderem, der «schlichter gestrickt» ist, keine moralischen Privilegien. Tatsächlich würden wir sogar sagen, dass es zu allererst die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Gemeinschaft und Sicherheit sind, für die moralisch zu sorgen ist; weitere Details der Lebensart folgen erst später. Dass wir aber jeder ein Lebewesen mit eigenen Wünschen und Zwecken sind und dass wir nicht primär auf der Welt sind, um jemand anderem zu Nutzen zu sein, sondern mit vollem Recht unseren eigenen Interessen folgen – das gilt für Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Schlauere und weniger Schlaue, Menschen und Tiere.[ 4 ]
Um welche Tierarten geht es?
Wenn wir also auch Tiere moralisch berücksichtigen sollen, sind dann wirklich alle Tiere gemeint, Angehörige jeder Tierart? Wie sich eine Kuh fühlt, wenn sie sich an der Stallwand schubbert, kann man sich ja noch halbwegs vorstellen; es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass sie es genießt. Aber eine Ameise? Die Muschel an der Kaimauer, die Schnecke im Garten? Wenn man sich auf eine einzelne Ameise konzentriert, wie sie sich auf dem Küchentisch mit einem Zuckerkörnchen abmüht (und überall anstößt, schließlich verbaut ihr der Zucker ja den Blick!), kann es einem vorkommen, als sei dies sozusagen ein winziger Mensch mit einem viel zu großen Paket. Aber stimmt das?
Die Frage ist nicht nur: Wie fühlt es sich für die Ameise an?, sondern: fühlt sie überhaupt etwas Bestimmtes? Ist da «jemand»? Überlegt die Ameise, wo es nun lang gehen soll, und ist sie genervt, wenn da schon wieder ein Hindernis ist? Wir wissen es nicht. Weder biologisch noch philosophisch ist bisher geklärt, ob diese Tiere kontinuierliche bewusste Empfindungen haben können. Wir wissen nicht, ob sie wirklich im vollen Sinne fühlen.[ 5 ]
Manches scheint allerdings auch eine Frage des Fokus zu sein: Wie genau schauen wir hin? Denken wir nochmals an die Ameise, die sich mit dem Zuckerkorn plagt, oder an eine Schnecke, auf die wir versehentlich getreten sind und die sich in ihrem zerbrochenen Gehäuse vor Schmerzen – wie es uns vorkommt – krümmt. In einem wunderbaren Büchlein hat die Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey, die jahrelang wegen einer schweren Krankheit ans Bett gefesselt war, beschrieben, wie sie lernte, vom Krankenbett aus die Verhaltensweisen, Gewohnheiten und, ja, individuellen Vorlieben ihres einzigen Haustiers, nämlich einer kleinen Gehäuseschnecke auf einer Topfpflanze, zu beobachten. Wennman das gelesen hat, fällt es einem schwer, zu der Ansicht zurückzukehren, Schnecken seien einfach nur gefühlloser Glibber mit Muskeln.
Dennoch: Tierethik widmet sich den Tieren, die bewusste Subjekte ihres Lebens sind. Nach derzeitiger zoologischer Kenntnis trifft dies gesichert nur auf Wirbeltiere mit zentralisiertem Nervensystem zu, also auf Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien, Reptilien und einige mehr (die uns im direkten moralischen Kontext aber selten begegnen). Außerdem auf einige Tiere, die keine Wirbeltiere sind, aber Ansätze zentralisierter Nervensysteme haben, nämlich vor allem Cephalopoden (Tintenfische und Kraken) sowie Dekapoden (Krebse, Hummer etc.).[ 6 ] Für den Rest der Tierwelt gilt das Recht auf volle moralische Berücksichtigung im tierethischen Kontext nicht. Es lässt sich (noch?) nicht postulieren, dass wir Insekten, Schnecken und anderen wirbellosen Tieren dieselbe moralische Rücksicht schulden wie Mäusen, Kamelen oder Menschen. Andererseits würde auch kaum jemand behaupten, dass man mit den anderen Tieren machen
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