Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
könne, was man wolle – also Libellen die Flügel ausreißen, Schnecken die Fühler abschneiden … Im Zweifelsfall, heißt es meist, sollte man auch diese Tiere schonen.
So richtig befriedigend ist dieser Schwebezustand der Wirbellosen nicht. Er läuft nicht nur dem Wunsch nach Eindeutigkeit zuwider, sondern riecht ein wenig nach Vorurteil: Was, wenn wir die Insekten genauso grundlos geringschätzen wie einst die nicht-menschlichen Säugetiere?[ 7 ] Wie sähen wir die Dinge, wenn eine Schmeißfliege so groß wäre wie eine Katze? Andererseits: Die Biologie schert sich tatsächlich nicht um unsere Sehnsucht nach sauberen Begriffen. Evolutionär hat sich nun einmal eine Lebensform aus der anderen entwickelt, und die Übergänge sind langsam und fließend.
Doch wenn wir schon einmal dabei sind, die Grenzen abzustecken: Warum erstreckt sich unsere Moral nicht auchauf Pflanzen? Vermutlich jeder Vegetarier hat sich schon einmal den – eher scherzhaften – Vorwurf zugezogen, auch Pflanzen würden schließlich leiden! Doch wer das sagt, steht nun wirklich eindeutig außerhalb der Biologie. Zwar können Pflanzen chemische und physikalische Reize «wahrnehmen» und darauf «reagieren» – aber beide Wörter muss man in Anführungszeichen setzen, weil Pflanzen zwar Sinnesrezeptoren besitzen, nicht aber Nerven, die diese bündeln oder an eine mit Bewusstsein ausgestattete Zentrale weiterleiten. Es werden Reize vermittelt, aber empfunden werden sie nicht.
Vielleicht noch ein paar allgemeine Sätze zur Biologie des Empfindens: Weder sind Sinnesrezeptoren gleichbedeutend mit Nerven noch generieren Nerven immer bewusste Empfindungen – übrigens auch beim Menschen nicht! Auch bei uns Menschen sind nicht alle Nervenaktivitäten mit Bewusstsein verknüpft. Nicht einmal alles, was vom Gehirn gesteuert wird, ist uns bewusst. Die Steuerungskreisläufe von Körpertemperatur, Blutdruck, Blutzuckergehalt und dergleichen mehr vollziehen sich die allermeiste Zeit, ohne dass wir es merken. Im Magen-Darm-Trakt ist ein Komplex von Nerven angesiedelt, den man aufgrund seiner Größe und Autarkie gar als eigenes Nervensystem (Enterisches Nervensystem) bezeichnet.[ 8 ] Es gibt also nervliche Vermittlungsprozesse, die uns bewusst sind, andere, die uns nicht bewusst sind, und wiederum andere, die uns in Krisenzeiten bewusst werden können.
Es wäre ja auch schlicht verheerend, wenn wir jeden kleinen Vorgang im Darm oder Herzen bewusst wahrnehmen würden, zumal wir die beteiligten Muskeln gar nicht steuern können. Dazu muss man sich kurz die biologische Funktion bewusster Empfindungen in Erinnerung rufen: Sie konnten sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte nur bewähren, weil sie einen bestimmten Zweck für den Organismus erfüllen konnten. So hat es sich ab einem gewissen Punkt derEvolution als vorteilhaft erwiesen, wenn Lebewesen, die Sinneswahrnehmungen haben und ihre Aktionen entsprechend ausrichten können, mit einem negativen oder positiven Empfinden dieser zunächst nur «blinden» chemischen oder physikalischen Reize ausgestattet waren. Schmerzempfinden ist eine zusätzliche Motivationsquelle für einen Organismus, Schädliches zu meiden; Lustempfinden motiviert das Lebewesen zu vorteilhaften Aktivitäten.
Das darf natürlich nicht zu dem Fehlschluss verleiten, Schmerz und Lust seien nur für unser Weiterleben relevant. Aus der Perspektive evolutionären Überlebens mag es so aussehen, aber streng genommen besitzt die Evolution keine eigene Perspektive, handelt nicht absichtsvoll – anders als wir Tiere und Menschen. Seitdem bewusste Empfindungen in die Welt gekommen sind, existiert eine Form von Realität – die des subjektiven Erlebens und Bezweckens –, die es vorher nicht gab. Und diese Art von Realität ist für uns bewusst erlebende Wesen sogar deutlich relevanter als die Realität unserer blind agierenden Gene und Körperzellen. Solch bewusstes Wahrnehmen, Fühlen und Wünschen ist gemeint, wenn ich bei Mensch und Kuh von einem Jemand spreche.
Der Vorwurf des Anthropomorphismus
Wie genau können wir anderen nun wirklich «ins Herz schauen»? Kaum spricht man über das Gefühlsleben von Tieren, setzt man sich einem weiteren Risiko aus, nämlich dem des Anthropomorphismus. Sicher wurde jeder Tierfreund und jede Tierrechtlerin schon mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sollten doch bitte in Tiere nicht etwas hineininterpretieren, was eigentlich rein menschlich sei. Und tatsächlich besteht die Gefahr, die Verhaltensweisen
Weitere Kostenlose Bücher