Aschenputtelfluch
Stipendiaten. Jasper hat es geschlos sene Anstalt für kopfgesteuerte Intelligenzbestien ge nannt, die alles hinterfragen, sogar die Liebe. Aber was Jasper sagt, spielt keine Rolle mehr.
»Alle mal herhören! Wir sind bald da!«
Ich schrak zusammen, als die Stimme von Frau Sturm durch den Bus schallte, begleitet vom schrillen Pfeifen des Mikrofons.
Frau Sturm hatte uns am Bahnhof erwartet. Sie sah ganz genauso aus wie die Supernanny im Fernsehen – die glei chen langen dunkelbraunen Haare, der gleiche schwarze Pullunder über dem weißen T - Shirt, und wenn sie sprach – dann versuchten ihre blauen Augen hinter der schwarzen Brille, ganz tief in mich hineinzublicken. Ich weiß nicht genau, was in dir vorgeht, schienen sie zu sagen, aber ich finde es heraus.
»Willst du einen Kaugummi?«, hörte ich eine Stimme ne ben mir. Der schläfrige McDreamy war tatsächlich aufge wacht.
»Was?«
»Ich bin Nikolaj, erinnerst du dich?«
»Ich bin ja nicht dement.«
»Und wie heißt du?«
»Jule. Auch zehnte Klasse.«
»Okay«, er nickte. »Dann bist du bei uns. Wir sind eine coole Truppe. Na ja, bis auf ein paar Freaks.«
Seine schwarz gelockten Haare reichten bis auf die Schultern. Er war ziemlich blass und seine Stirn zeigte ei nen abartig großen Bluterguss. Aber er sah viel besser aus als Jasper. Und er roch verdammt gut nach irgendeinem Wunderdeo. Hätte ich nicht mit dem Thema Männer end gültig abgeschlossen, ehrlich, ich wäre am liebsten dicht an ihn gerückt, nur um an ihm zu schnuppern. Ein richti ger McDreamy - Typ. Und Augen hatte er – die waren so braun, dass ich sofort Heißhunger verspürte auf original italienischen Cappuccino mit viel Milchschaum.
»Also, willst du nun einen Kaugummi, Jule?«
Er grinste.
Nein, er grinste nicht, er lächelte irgendwie . . . beson ders. In der Tat – ein klarer Fall von McDreamy – träumen durfte man ja.
»Okay«, erwiderte ich und wurde rot. Zumindest wurde mir heiß. Unsere Hände berührten sich, als er mir den Kau gummi Marke Strong Mint von Fisherman’s Friend reichte.
Verdammt, meine Hormone hielten sich nicht an die Re geln, die ich aufgestellt hatte. Ich war nicht gewillt, mich wieder zu verlieben, bis ich achtzehn war. Jasper, du Idiot!
»Schau mal, Kira! Da vorne sieht man schon den Kirch turm!« In der Reihe neben uns löste ein dunkelhaariges Mädchen ihren Sicherheitsgut und hüpfte vor Aufregung auf ihrem Platz auf und ab. Hemmungslos beugte sie sich über ihre Platznachbarin, ein groß gewachsenes schmales Mädchen mit honigfarbener Haarmähne, deren Gesicht so ernst war, als hätte sie ihr Lachen für alle Ewigkeit an den Teufel verkauft.
Ich sah aus dem Fenster. Tatsächlich – hinter dem Wald stück tauchte er auf, der hohe Kirchturm von Ravenhorst.
»Bitte setze dich, Emilia«, rief Frau Sturm. »Und schnall dich wieder an. Wir wollen doch nicht, dass dir bereits am ersten Tag im Internat etwas zustößt!« Ihr Blick wanderte durch den Bus. »Und ihr beiden dort hinten, Michael und Nora, bitte passt auf, dass ihr euch beim Küssen nicht ge genseitig verschluckt. Etwas dezenter bitte! Hier sind auch jüngere Schüler!«
Allgemeines Gelächter brach aus. Die Einzige, die keine Miene verzog, war die Honigblonde neben Emilia. Neugierig wandte ich mich um und musterte das Pärchen auf der Rückbank. Blonde Haare, quietschegelb und flaumig wie bei einem Küken, beugten sich über eine hellbraune Pferdemähne, die an einem roten Sweatshirt klebte.
Nein! Das war wirklich kein Filmkuss, sondern es schien eher so, als probten sie bereits das Überleben der mensch lichen Spezies.
»Na«, McDreamy musterte mich aufmerksam, »nei disch?«
»Quatsch«, erwiderte ich, obwohl es mir doch einen Stich ins Herz gab. Fast hätte ich hinzugefügt: Das hätte ich vor wenigen Wochen auch haben können – und noch mehr.
»Du bist eine von den Neuen, oder?« Emilia drehte sich zu mir und starrte mich neugierig an. »Du bist bestimmt total aufgeregt. Aber keine Sorge, alles halb so schlimm.«
»Ich bin froh, von zu Hause weg zu sein. Etwas Besseres als diese Schule im Nirgendwo kann mir gar nicht passie ren.«
Jetzt wandte Emilias Sitznachbarin – war ihr Name nicht Kira – den Kopf. Für einen Moment musterte sie mich. War das Mitleid in ihrem Blick? Mann, hatte sie eine Ah nung, was hinter mir lag? Nein!
Egal!
Ich wurde von einem riesigen Vogelschwarm abgelenkt. Das Krächzen der Raben, die zu Hunderten mit schwar zem Flügelschlag nach unten
Weitere Kostenlose Bücher