Aschenwelt
diesem Zeitpunkt nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Ich umarmte ihn. Gott, war er groà und breit! Seine ganzen AusmaÃe wurden mir erst jetzt so richtig bewusst, als ich ihn kaum umfassen konnte. Er zuckte und wich ein Stück von mir zurück. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Danke«, sagte ich. »Für alles.«
Kevin wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und nickte dabei, während ihm noch mehr Tränen in die Augen stiegen. Er versuchte zu lachen, aber es hörte sich eher wie Schluchzen an.
»Und es tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war. Du hast das nicht verdient.«
Kevin schniefte und schüttelte den Kopf. »Du konntest nichts dafür.« Er schob wieder seine Hände in die Hosentaschen und wippte vor und zurück. »Also dann«, sagte er. »Du hast so viele Gäste heute. Ist ja auch dein Fest. Ich will dich nicht länger aufhalten.«
»Hast du schon was gegessen?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Ich war zu aufgeregt.«
»Hast du jetzt Hunger?«
Er nickte.
»Na, dann ab zu meinem Vater, bevor er auf seinem Rost noch mehr Grillkohle produziert!«
Er nickte noch ein paar Mal schnell hintereinander und eilte dann zu meinem Vater und den Freuden auf dem Grill.
Ich ging ein wenig spazieren. Unser Garten reicht bis hinab zum Fluss, und dorthin zog es mich. Es war schon Monate her, als ich zum letzten Mal dort unten war, im Sand saà und aufs Wasser hinausblickte.
Ich trat aus dem Schatten der Bäume heraus auf den gelben Sand. Ãber mir wölbte sich der makellose blaue Himmel. Ãberall im Sand steckten kleine, bunte Windräder, die im lauen Frühlingswind surrten. Ganz vorne am leise blubbernden Wasser saà ein Mädchen im Sand. Sie schaute auf das Wasser hinaus. Ihr weiÃes Kleid und ihre goldblonden Locken leuchteten wie die Sonne selbst. Ich ging zu ihr und setzte mich an ihre Seite.
Liebste Anne!
Ich habe sie bis zum Ende aufgeschrieben, meine Geschichte. Wenigstens bis zu dem Ende, von dem ich dachte, dass es das ist. Und es war gut, dass ich es getan habe! Denn mir ist dabei etwas klar geworden, das ich über all die Jahre nicht gesehen habe, oder nicht sehen wollte.
Die Windräder am Strand und dieses blonde Mädchen, das im Sand saà und aufs Wasser hinausblickte. Ich wünschte damals, es wärst Du gewesen. Und dann war ich, oder wenigstens ein Teil von mir, doch froh, dass Du es nicht warst.
Ich setzte mich zu diesem Mädchen, wir lächelten uns an, und in mir kämpften zwei Stimmen gegeneinander, was nun besser wäre. Diese Stimmen habe ich bis zum heutigen Tag in mir. Und sie machen mich fertig. Ich will sie nicht mehr!
Ich weiÃ, wie ich sie vielleicht los werde. Ich muss mich entscheiden. Nicht für die eine oder andere Stimme. Sie haben beide Recht und Unrecht zugleich. Nicht für oder gegen Dich. Sondern für das wahre Leben!
Und mich für das wahre Leben zu entscheiden bedeutet auch, mich für die Menschen zu entscheiden, denen ich wichtig bin. Und die auch mir wichtig sind. Und das sind meine Mutter, und Kevin, und, ja, auch Nadeschda.
Ich liebe sie, Anne. Egal, was ihr Bruder getan hat. Ich liebe sie. Und es fühlt sich so an wie mit Dir damals. Es ist echt, es ist richtig.
Was soll ich sagen. Es ist einfach so. Ich höre wieder diese Stimme in mir, die mich anschreit, ich sei verrückt, mit der Schwester Deines Mörders etwas zu tun zu haben. Aber ich höre nicht mehr auf sie. Nie wieder.
Die wahre Welt. Die Realität. Wenn ich mich darauf einlasse, brauche ich die Windradwelt nicht mehr.
Anne, ich vermisse Dich. Ich werde Dich immer vermissen. Aber ich werde Dich wiedersehen. Ich bin mir sicher. Ich hoffe es wenigstens. Aber zuerst muss ich mein Leben leben. Zusammen mit den Menschen, die mich lieben und die ich liebe.
Anne, lebe wohl. Bis dereinst wir uns wiedersehen.
Deine Dich liebende Jo.
Sie faltete den Brief, steckte ihn in einen Umschlag und legte ihn auf das Tischchen neben ihrem Bett. Sie ging zu einer kleinen Kiste, in der all die Briefe waren, die sie über die Jahre an Anne geschrieben hatte. Kevin war so nett, ihr die Briefe zu bringen. Und er tat es, ohne Fragen zu stellen.
Jo schob ihre Hand zwischen die Briefe und befühlte das Papier, hob sie hoch und lieà sie wieder zurückfallen.
Nadeschda trat ins Wohnzimmer. »Magst
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