Atlantis
nicht einmal verstehen wollen; sie würde sich seine Version der Geschichte nicht einmal anhören. Welche Version? Und warum ist nichts davon je passiert?
Wegen Gott, glaubt er. Weil Gott gut ist. Gott ist streng, aber auch gut. Er kann sich nicht zu einer Beichte durchringen, aber Gott scheint das zu verstehen. Sühne und Buße brauchen ihre Zeit, aber er hat Zeit geschenkt bekommen. Gott hat ihn auf jedem Schritt seines Weges begleitet.
In der Kabine, noch im Übergang von einer Identität zur anderen begriffen, schließt er die Augen und betet - zuerst dankt er dem Herrn, dann bittet er ihn um Führung, dann bedankt er sich erneut. Er schließt wie immer mit einem Flüstern, das nur er selbst und Gott hören können: »Falle ich im Kampfgebraus, tütet mich ein und schickt mich nach Haus. Und wenn ich in Sünde krepier, schließ die Augen, Herr, und nimm mich zu dir. Jawohl. Amen.«
Er verlässt die Kabine, verlässt die Toilette, verlässt das hallende Durcheinander des Sheraton Gotham, und niemand kommt auf ihn zu und sagt: »Verzeihen Sie, Sir, aber waren Sie nicht eben noch blind?« Niemand wirft ihm einen zweiten Blick zu, als er auf die Straße hinaustritt und dabei den klobigen Koffer schwenkt, als wöge er zwanzig Pfund statt hundert. Gott beschützt ihn.
Es hat angefangen zu schneien. Er ist jetzt wieder Willie Shearman; langsam geht er durch den rieselnden Schnee und nimmt den Koffer dabei häufig von einer Hand in die andere - einer von vielen müden Männern am Ende des Tages. Unterwegs denkt er weiter über seinen unerklärlichen
Erfolg nach. Es gibt einen Vers bei Matthäus, den er auswendig gelernt hat. Sie sind blinde Blindenleiter, heißt es da. Wenn aber ein Blinder den anderen leitet, so fallen sie beide in die Grube. Dann gibt es das alte Sprichwort, dass im Königreich der Blinden der Einäugige König ist. Ist er der Einäugige? Mal abgesehen von Gott, war dies das eigentliche Geheimnis seines Erfolges in all diesen Jahren?
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Er ist jedenfalls wirklich beschützt worden … und er glaubt keinesfalls, dass er von Gott absehen kann. Gott gehört zum Bild. Gott hat ihn 1960 gezeichnet, als er Harry Doolin zuerst geholfen hat, Carol Angst einzujagen, und dann, sie zu schlagen. Diese Sünde hat er nie wieder vergessen können. Was in dem Wäldchen in der Nähe von Platz B geschehen ist, steht für alles andere. Er hat sogar Bobby Garfields Handschuh als Gedächtnisstütze. Willie weiß nicht, wo Bobby heute ist, und es ist ihm auch egal. Carol hat er im Auge behalten, solange es ging, aber Bobby spielt keine Rolle. Bobby hat aufgehört, eine Rolle zu spielen, als er ihr half. Willie hat gesehen, wie er ihr half. Er selbst hat es nicht gewagt, aus seinem Versteck zu kommen und ihr zu helfen - er hatte Angst vor dem, was Harry ihm antun könnte, Angst vor all den Jungen, denen Harry es erzählen könnte, Angst davor, gebrandmarkt zu werden - aber Bobby hat es gewagt. Bobby hat ihr damals geholfen, er hat Harry Doolin später in jenem Sommer bestraft, und dadurch (wahrscheinlich schon durch das Erstere) ist Bobby gesund geworden, hat Bobby es gepackt. Er hat getan, was Willie sich nicht getraut hat, er hat getan, was getan werden musste und es gepackt, ist gesund geworden, und jetzt muss Willie alles andere machen. Und das ist eine ganze Menge. Sich entschuldigen
ist ein Vollzeitjob. Und mehr als das. Obwohl er zu dritt daran arbeitet, kommt er kaum hinterher.
Trotzdem, er kann nicht behaupten, dass er sein Lebtag in Sack und Asche geht. Manchmal denkt er an den guten Dieb, der damals in jener Nacht mit Christus ins Paradies eingegangen ist. Freitagnachmittag blutet man auf dem steinigen Hügel zu Golgatha; Freitagabend gibt’s Kaffee und Kuchen beim König der Könige. Manchmal tritt ihn jemand, manchmal stößt ihn jemand, manchmal hat er Angst, dass ihn jemand ausrauben könnte. Na und? Steht er nicht für all jene, die nur im Schatten stehen und zusehen können, wie der Schaden angerichtet wird? Bettelt er nicht für sie? Hat er nicht Bobbys Alvin-Dark-Baseballhandschuh 1960 um ihretwillen genommen? Doch, das hat er. Gott segne ihn, das hat er. Und jetzt legen sie ihr Geld hinein, wenn er blind draußen vor der Kathedrale steht. Er bettelt für sie.
Sharon weiß es … aber was genau weiß Sharon wirklich? Manches, ja. Wie viel, kann er nicht sagen. Jedenfalls genug, um das Glitzerband zu besorgen; genug, um ihm zu sagen, dass er gut aussieht mit seinem
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