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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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eine Kabine hineinging und als Willie Shearman herauskam? Angenommen, es würde Wheelock sogar gelingen, ihn von Willie zu Bill zurückzuverfolgen?
    Diese Überlegungen rufen seine morgendliche Nervosität wieder wach, das Gefühl, eine Schlange in der Häutungsphase zu sein. Die Furcht, man könnte ihn bei der Annahme von Bestechungsgeld fotografiert haben, wird Wheelock eine Weile in Schach halten, aber es lässt sich nicht vorhersagen, wozu er fähig wäre, wenn seine Wut groß genug ist. Und das ist furchteinflößend.
    »Gott sei mit dir, Soldat«, sagt eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ich wünschte, ich könnte mehr tun.«

    »Nicht nötig, Sir«, sagt Blind Willie, aber er ist mit den Gedanken immer noch bei Jasper Wheelock, der nach billigem Rasierwasser riecht und mit einem Priester über den Blinden mit dem Schild gesprochen hat, den Blinden, der Wheelocks Ansicht nach überhaupt nicht blind ist. Was hatte er gesagt? Du kommst in die Hölle. Mal sehen, wie viele Spenden du da unten kriegst. »Frohe Weihnachten wünsche ich Ihnen, Sir. Danke für Ihre Hilfe.«
    Und der Tag geht weiter.

16:25 Uhr
    Sein Sehvermögen kehrt allmählich zurück - schwach und verschwommen, aber immerhin. Das ist das Zeichen für ihn, seine Sachen zu packen und zu gehen.
    Er kniet sich mit steifem Rücken hin und legt den Stock wieder hinter den Koffer. Er bündelt die letzten Scheine, wirft sie zusammen mit den letzten Münzen in den Unterboden des Koffers, legt dann den Baseballhandschuh und das mit Glitzerband verzierte Schild hinein. Er verschließt den Koffer und steht auf, den Koffer in der einen, den Stock in der anderen Hand. Jetzt ist der Koffer schwer, er zerrt mit dem toten Gewicht all dieses gut gemeinten Metalls an seinem Arm. Ein lautes Rasseln und Knirschen ertönt, als die Münzen sich lawinenartig verlagern, dann sind sie so reglos wie tief im Boden vergrabenes Erz.
    Er setzt sich in Bewegung und geht die Fifth Avenue entlang, wobei er den Koffer wie einen Anker am Ende des linken Armes hängen lässt (nach all diesen Jahren ist er an dessen Gewicht gewöhnt und könnte ihn, falls erforderlich,
noch viel weiter tragen, als es an diesem Nachmittag nötig ist) und mit dem Stock in der rechten Hand behutsam aufs Pflaster vor ihm tippt. Der Stock ist ein Zauberstab, er schlägt ihm auf dem belebten, rammelvollen Bürgersteig eine Schneise in Form einer tränenförmigen Welle. Als er an die Ecke Fifth Avenue und Dreiundvierzigste Straße kommt, kann er diese Schneise tatsächlich sehen. Er sieht auch, dass das DON’T WALK-Licht an der Zweiundvierzigsten zu blinken aufhört und konstant leuchtet, geht aber trotzdem weiter, bis ein gut gekleideter Mann mit langen Haaren und Goldketten die Hand ausstreckt und ihn an der Schulter festhält.
    »Vorsicht, guter Mann«, sagt der Langhaarige. »Die Autos haben Grün.«
    »Danke, Sir«, sagt Blind Willie.
    »Keine Ursache - frohe Weihnachten.«
    Blind Willie überquert die Straße, geht an den Löwen vorbei, die vor der Public Library Wache halten, und biegt zwei Blocks weiter zur Sixth Avenue ab. Niemand spricht ihn an; niemand hat sich bei der Kirche herumgetrieben und beobachtet, wie er den ganzen Tag Geld gesammelt hat, um ihm dann zu folgen und nur auf die Gelegenheit zu warten, ihm den Koffer zu entreißen und damit wegzulaufen (nicht dass viele Diebe damit weglaufen könnten , nicht mit diesem Koffer). Im Sommer 1979 haben ihn einmal zwei oder drei junge Burschen angesprochen, vielleicht Schwarze (er konnte es nicht mit Sicherheit sagen; sie klangen wie Schwarze, aber sein Sehvermögen war an diesem Tag nur langsam zurückgekehrt - bei warmem Wetter, wenn es länger hell blieb, dauerte es immer länger), und zwar auf eine Weise, die ihm ganz und gar nicht gefiel. Sie waren
anders als die Kinder an diesem Nachmittag mit ihren Witzchen über das Lesen von Waffeleisen und wie wohl ein Playmate des Monats in Braille aussieht. Sie waren sanfter und auf eine seltsame Weise fast freundlich - sie erkundigten sich, wie viel er bei St. Pat’s eingenommen habe, ob er wohl so großzügig wäre, etwas für eine gewisse Polo Recreation League zu spenden, und ob er ein bisschen Schutz auf dem Weg zu seiner Bushaltestelle oder seinem Bahnhof oder wohin auch immer immer haben wolle. Einer von ihnen, vielleicht ein angehender Sexologe, hatte ihn gefragt, ob er nicht hin und wieder mal Lust auf eine junge Muschi hätte. »Das bringt Sie auf Touren«, hatte die Stimme zu seiner Linken

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