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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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dieser Kette schwarzer Hügel eingefaßt wurde. Der weithin sichtbare Feuerschweif mußte den Augenzeugen, Nomaden, die diese Gegend schon damals durchstreiften, als eine alle Sterne überglänzende Brücke aus Licht erschienen sein, die Himmel und Erde für einen Atemzug verband.
    Auch wenn diese Himmelsbrücke noch im Erstrahlen wieder erloschen war, mußte sie in den Augen der Zeugen nicht nur ein nachleuchtendes Blendungsbild hinterlassen haben, sondern eine unauslöschliche Erinnerung, die weiter und weiter und durch die Jahrhunderte überliefert wurde, bis sie selbst die entferntesten Ränder der Wüste erreichte und überall dort, wo man sie hörte, Trauernde dazu brachte, sich hierher auf den Weg zu machen.
    Gab es denn einen hoffnungsvolleren, friedvolleren Ort für eine letzte Ruhestätte als das irdische Ende einer Brücke, die aus der leidvollen, ausgedörrten, von Sandstürmen und Kriegen zerrissenen Welt zu den Sternen führte? Und erwies man den Toten dann nicht einen letzten und vielleicht größten Liebesdienst, wenn man sie durch die Wüste trug, Wochen, Monate durch die Wüste, um sie hier unter Steinkegeln, deren Spitzen zu den Sternen wiesen, zu bestatten?
    Heute nacht, sagte der Fahrer und zeigte auf die Front aus Sandwolken, die den Höhenzug im Westen allmählich zu verschlingen begann, heute nacht würden über unserem Lagerplatz im Schein unserer Lampen nur Sandwirbel zu sehen sein, aber wer von dieser Brücke aus Licht jemals auch nur gehört habe, der konnte sie in seiner Vorstellungskraft auch in Sandstürmen wiedererrichten als den kürzesten Weg zu den Sternen.

Tod in Sevilla
    Ich sah einen schwarzen andalusischen Kampfstier an einem strahlenden Palmsonntag in der großen Arena von Sevilla. Als ob er die Nabe an einem aus mehr als zwölftausend Zuschauern bestehenden Rad wäre, das sich brausend um ihn drehte, stand er bewegungslos, schwer atmend, verstrickt in ein tief in den Sand eingegrabenes Muster aus Kampfspuren, und schien wie versunken in den Anblick seines Feindes, eines berittenen Toreros, der ihn fünf oder sechs Pferdelängen entfernt erwartete. Zwischen den Schulterblättern des Bullen steckten sechs Banderillas, armlange, mit buntem Papier umwickelte Spieße, die an einen Strauß geknickter Blumen erinnerten. Mit jedem seiner Atemzüge stieg Blut aus den Stichwunden und kroch in wirren Spuren über das Fell zu den Hufen hinab.
    Drei Rejoneadores, Toreros zu Pferd, sollten an diesem Sonntagnachmittag die Stierkampfsaison eröffnen, indem sie im Sattel die älteste Form dieses Kampfes vorführten und dabei in sechs aufeinanderfolgenden Corridas sechs Stiere töteten. Anders als einem Matador im Kampf zu Fuß standen einem berittenen Torero keine Picadores mit ihren Lanzen und gepanzerten Pferden zur Seite und keine Banderilleros mit ihren bunten Spießen. Alles, was an tänzerischer, strengen Regeln unterworfener Todesarbeit zu tun war, mußte ein Drama bleiben allein zwischen dem Reiter, seinem Pferd und dem Stier. Ein Rejoneador schwenkte weder eine Capa noch eine Muleta, keines der rosafarbenen und roten Tücher, mit denen der Stier im Kampf zu Fuß getäuscht und geführt werden mußte, sondern an einem Nachmittag wie diesem ersetzte der ungeschützte Körper des Pferdes jedes Tuch und bot dem Stier jenes Angriffsziel, das mit allen Figuren der Hohen Schule andalusischer Reitkunst vor seinen Hörnern bewahrt werden mußte.
    Fünf Stiere waren an diesem Palmsonntag bereits getötet und von Maultiergespannen aus der Arena geschleift worden, als dieser letzte, nun schwer atmende, blutende aus dem Dunkel des Corrals in die Arena hinausgestürmt war und weit draußen in der Leere plötzlich innehielt, als wäre er überrascht, verwundert, ja entsetzt, daß er nicht wieder auf seine Weide hoch über dem Golf von Cádiz entlassen worden war, wo er die bisherigen vier Jahre seines Lebens verbracht hatte, sondern in diese nackte, tosende Weite, in der Blutspuren dahin und dorthin führten. Dennoch war er den Zurufen des Rejoneadors zunächst erwartungsgemäß gefolgt und gegen den Reiter und seinen prachtvollen Schimmel angerannt. Aber anders als die Angriffe der fünf vor ihm Getöteten hatten die seinen den Eindruck erweckt, er stürme nicht, um niederzuwerfen, zu durchstoßen, zu töten, sondern bloß, um ein Hindernis aus jenem Weg zu schaffen, der zurück auf die Weide führte. Und seine Angriffe waren müder und müder geworden, als, was ihm diesen Weg versperrte, weder zu

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