Atlas eines ängstlichen Mannes
erreichen noch wegzustoßen war, sondern nach ihm stach und ihn verletzte.
Zweimal hatte der Reiter die Zügel schleifen lassen, war mit wie zum Jubel erhobenen Händen, in denen er die Banderillas hielt, an den Stier herangesprengt und hatte ihm die bunten, mit Widerhaken versehenen Spieße aus vollem Galopp zwischen die Schulterblätter gestoßen. Aber auch der Schmerz hatte den Stier nicht in jene Angriffswut versetzt, die von ihm gefordert war – und so verlangte schließlich das Publikum im Chor, seine Trägheit, seine Feigheit mit den
banderillas negras
zu bestrafen – mit schwarzem Papier, der Farbe der Schande, umwickelten Spießen, die, mit längeren Widerhaken versehen, tiefer ins Fleisch drangen.
Erst als diese Banderillas wie zwei schwarze Blitze aus den Händen des Rejoneadors auf ihn niedergefahren waren, verfiel der Stier endlich in jene Raserei, die dem Reiter zur Begeisterung der Zuschauer alle seine Kunst abverlangte. In fliegendem Galoppwechsel, in Pesaden und Levaden, in Seitengängen und Courbetten ließ er die Stierhörner oft bis auf eine Handbreit an seine Stiefel, an die Flanken des Pferdes herankommen, bevor er den Schimmel mit einer kaum wahrnehmbaren Straffung der Zügel oder einem Schenkeldruck in eine graziöse, rettende Ausweichbewegung tänzeln ließ.
Die Todesdrohung, die über jeder Figur dieses Tanzes lag, bei dem Pferdebäuche durchstoßen und aufgerissen werden, Darmschlingen in den Sand platzen, ein Reiter von seinem tödlich verwundeten Tier erdrückt oder, im Steigbügel gefangen, vor Hufe und Hörner geschleift und aufgespießt oder zerstampft werden konnte, ließ die Beherrschung des Pferdes ohne Peitsche und Gerte, die Unterdrückung seiner Todesangst, noch ungeheuerlicher erscheinen.
Das Publikum tobte, als der Rejoneador nach einer Folge virtuos parierter Angriffe seinen Schimmel exakt im Tempo eines neuerlichen Ansturms im Seitengang zurücktänzeln und den Stier dabei so nahe herankommen ließ, daß er sich plötzlich weit aus dem Sattel beugen und dem Angreifer seinen Ellbogen zwischen die Hörner setzen, sich auf den Stierschädel stützen! konnte und so seinen Körper in eine Brücke zwischen einem schwarzen, wütenden Bullen und einem weißen, zu Tode geängstigten Pferd verwandelte. Dann richtete er sich im Bruchteil einer Sekunde wieder auf, ließ das Pferd hochsteigen und den Stier an einer Pirouette vorbei ins Leere stoßen.
In der rasenden Geschwindigkeit aller Bewegungen war zunächst unbemerkt geblieben, daß der Schimmel dabei doch von einem Horn getroffen, gestreift worden war. Ein langgezogener, im Chor ausgestoßener Seufzer erfüllte die Arena, als der breite Blutbach sichtbar wurde, der die rechte Flanke hinabfloß und ihr Weiß noch verletzlicher und kostbarer erscheinen ließ. Aber der Rejoneador winkte ab. Er wollte kein frisches Pferd, sondern beugte sich tief über die zu Zöpfen geflochtene Mähne, über den schneeweißen Hals und küßte beide Ohren des Tieres, bevor er ihm etwas zuflüsterte, ein besänftigendes Wort, ein Kommando, vielleicht eine Bitte. Und noch einmal seufzte die Arena, als der blutende Schimmel nach dieser Einflüsterung plötzlich auf die Knie sank, mitsamt seinem Reiter auf die Knie vor dem Stier. Und der setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, als wollte er diese Geste der Demut – oder war es eine der Verhöhnung? – zerstampfen, und stürmte, flog auf das Pferd zu, das schon verloren schien, als der Reiter es im letzten, allerletzten Augenblick auf- und in die rettende Wendung springen ließ.
Der dem Kampf vorsitzende Präsident, er saß irgendwo im Jubel unter einem Baldachin, hatte das Zeichen zum
tercio de la muerte
, dem letzten, dem Todesdrittel der Corrida gegeben, und der Rejoneador hatte die kurze Lanze, die er zum Todesstoß in den Strauß der Banderillas versenken sollte, bereits von einem Gehilfen an der Bande in Empfang genommen, als in einem Augenblick des erschöpften Innehaltens, in dem sich Reiter und Pferd wie ein Standbild aus dem Muster der Kampfspuren im Sand erhoben und der Stier in einer Entfernung von fünf oder sechs Pferdelängen wie versunken schien in die Betrachtung seines Feindes – ein Schrei zu hören war, er kam von den billigen Rängen hoch oben, und es war nicht zu unterscheiden, ob es der Schrei eines Mannes oder einer Frau war:
Indulto!
Gnade! Begnadige ihn!
Mit einem Ruf wie diesem forderte das Publikum selten, sehr selten Gnade für einen Stier, der so beherzt, so
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