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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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seinen
Helden der altisländischen Sagas erzählt, von dem mit Axt und Schwert kämpfenden Dichter Gunnlaug etwa oder von Egill, der schon als Siebenjähriger einem Feind den Schädel spaltete, von Grettir, dem Starken, der einen ausgewachsenen Ochsen auf seinen Schultern tragen konnte, und von Gísli, der, aus tiefsten Wunden blutend, noch weiter kämpfen und kämpfen – und seine Feinde zerstampfen konnte.
    Aber seltsam, hatte der Fotograf gesagt, der für alle Schattierungen des Tageslichts einen Namen wußte, seltsam, daß viele dieser Helden, nachdem sie alle Schlachten überlebt, durch Ströme von Blut gewatet waren, am Ende einer uralten, kindlichen Angst zum Opfer fielen – der Angst vor der Dunkelheit. Diese Angst habe einige der mächtigsten und glorreichsten Helden Islands so sehr gequält, daß sie schließlich keinen anderen Feind mehr zu kennen glaubten als die Nacht, eine unbesiegbare Nacht, die sich allmählich und unaufhaltsam auf sie herabzusenken begann.
    Späne, Kerzen, Fackeln, hatte der Fotograf an einem unserer abendlichen Kochfeuer gesagt – wenn die von ihrer Angst Gefolterten endlich schlafen, schlafen wollten, habe immer etwas brennen, etwas lodern, leuchten, glimmen müssen, irgendein Licht, und sei es ein Funkenschwarm. Und wenn sie tief in der Nacht aus einem Alptraum hochschreckten und in der Finsternis um sie herum alles still und alles erloschen und jeder Trost zur Beute von Gespenstern geworden war, konnte ihr ganzer Clan sie vor Entsetzen schreien hören.
    Es war später Nachmittag, über den Lavafeldern im Südosten lag ein silbriger Glanz – Widerschein des großen Vatnajökull, dessen Ausläufer den Horizont wie ferne, zinkweiße Mauern begrenzten. Das Eis dieses Gletschers bedeckte mehr als achttausend Quadratkilometer vulkanisches Land und warf alles Licht in den Himmel zurück. Eine tiefstehende Sonne brach durch Wolkenbänke, deren Ränder plötzlich zu glühen, zu brennen begannen.
    Wir hielten Rast vor einem verfallenen Steinmal auf einem felsigen Sattel mit weitem Blick über schwarze und ockerfarbene Wüstenstriche, und der Fotograf versuchte, im böigen Wind einen sicheren Standplatz für sein Stativ zu finden – als sich meine Gespenster aus der Wüste erhoben: Windhosen, die fast gleichzeitig aus dem Staub in der Tiefe hochstiegen, zur Größe von Bäumen, von Türmen anwuchsen und auf uns zuwirbelten. Einzelne kleinere solcher Wirbel, der Fotograf nannte sie
Staubteufel
, hatte ich in den vergangenen Tagen immer wieder gesehen, aber niemals mehrere gleichzeitig und niemals in dieser Größe.
    Was hatte ein Held, den die Erinnerung an erschlagene Feinde, an gefallene Gefährten, Freunde und an unschuldige Opfer seiner Eroberungszüge quälte, beim Anblick dieser heranfegenden Staubwirbel empfunden? Woran dachte ein erschöpfter Sieger, der über ein Meer von Blut gesegelt war?
    Der Fotograf, mit seinem Stativ beschäftigt, wandte mir und den Gespenstern den Rücken zu. Aber als ich ihm zurief, schnell!, dort!, er könne die Gespenster seiner Sagas in der Wüste dort unten fotografieren, und er sich aufrichtete und fragend in meine Richtung und in die Tiefe sah, waren die Wirbel, so plötzlich wie sie aufgeraucht waren, wieder in den Staub zurückgesunken und erschien die Ebene im späten Licht glühend und leer.

Das Erlöschen einer Stadt
    Ich sah den Nachthimmel über den Graten und Höhenzügen des Taygetos-Gebirges, das die südgriechischen Präfekturen Messenien und Lakonien als ein bis zu zweitausendvierhundert Meter hoher Grenzwall voneinander trennt. Vega, Deneb und Altair, die drei Alpha-Sterne in den Himmelsarealen von Leier, Schwan und Adler, stachen jenes gigantische, Abertausende Lichtjahre umspannende Dreieck in die mondlose Finsternis, das in der Astronomie als typische Konstellation am Sommerhimmel der nördlichen Hemisphäre gilt.
    Die Nacht war windstill, warm und so klar, daß die Enden der Milchstraße nicht im Dunst tieferer Luftschichten verschwammen, sondern, von den Horizontlinien wie mit einem Messer beschnitten, in der nächtlichen Erde zu versinken schienen. Und doch war an diesem funkelnden Frieden einer Sommernacht, an dieser Windstille, dieser Wärme etwas Trügerisches, ja Bedrohliches, das ich nicht benennen konnte.
    Ich hatte mit meinem Motorrad in einer Spitzkehre der steinigen Bergstraße angehalten, weil ich ohne erkennbare Ursache plötzlich ins Schleudern geraten war und einen Sturz nur mit Mühe hatte verhindern

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