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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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mitreißend gekämpft hatte, daß ihm die Entlassung aus der Arena, die Pflege seiner Wunden und ein friedvolles Leben auf den Weiden seiner Herkunft zu gönnen war.
Indulto!
Aber eine solche Gnadenforderung mußte in einer Arena wie der von Sevilla von einem Chor aus Tausenden Stimmen erhoben werden und nicht bloß von einer Stimme wie jener dünnen, einzigen an diesem Palmsonntag.
    Zwar hob der Rejoneador den Kopf und blickte um sich und in die Weite, aber als auch diese eine Stimme im gespannten Schweigen der Arena verstummte, richtete er sich im Sattel auf und hob seine Lanze, als gäbe er dem Stier damit bloß ein seit Jahrhunderten abgesprochenes Zeichen. Und der setzte sich noch einmal und zunächst wie aus einer großen Müdigkeit in Bewegung, kam dann aber schneller und schneller und unaufhaltsam auf ihn zu.

Gespenster
    Ich sah Gespenster. Es waren sieben, nein: acht! Nahezu gestaltlos, baumhoch, turmhoch und dicht nebeneinander wirbelten sie über eine der Lava- und Steinwüsten, die das zentrale, menschenleere Hochplateau Islands bedecken.
    Es war ein stürmischer Nachmittag im Oktober und die Jahreszeit für längere Fahrten und Wanderungen durch die Wüsten des Hochlands schon fortgeschritten, aber weil die Meteorologen stabile Luftdruckverhältnisse vorhergesagt hatten, war ich seit Tagen mit einem Fotografen aus Reykjavík in einem Geländewagen – und in unbefahrbarem Bergland zu Fuß – auf verworrenen Routen zwischen den Inlandgletschern Langjökull, Hofsjökull und dem großen Vatnajökull unterwegs. Die Nächte verbrachten wir im Windschatten von Felstürmen in unserem Zelt oder in einer der verstreuten, seit Wochen nicht mehr besuchten Hütten und Biwakschachteln, die den Zufluchtsuchenden in der isländischen Wildnis offenstehen. An eisigen Abenden badeten wir manchmal in heißen Quellen.
    Der Fotograf wollte die Schönwetterperiode nützen, um einer Leidenschaft nachzugehen, die ihn immer wieder nicht nur in die Einöden Islands, sondern in die Gebirge und Wüsten aller Welt geführt hatte: Er fotografierte Wegzeichen, jüngste wie älteste, prähistorische und neuzeitliche Steinmale, Steinkegel, Steinsäulen oder in Felswände geschlagene Orientierungszeichen und sammelte so Bild um Bild von allem, was einem Menschen helfen konnte, sein Ziel zu erreichen oder wenigstens einen Rückweg oder Fluchtweg zu finden.
    Wir waren uralten, seit Jahrhunderten befahrenen, aber auch längst aufgegebenen, von neuen Pistenführungen ersetzten Routen gefolgt und hatten an von schwarzem Sand überwehten Kreuzungen und Weggabelungen Steinmänner gesehen, die einst von den Gesetzen der Insel so streng geschützt worden waren wie das Leben selbst: Die Zerstörung oder Versetzung dieser Zeichen war mit Tod oder Verstümmelung bestraft worden, denn alle Wege durch die Wüste führten irgendwann ans Meer, und nur in Küstennähe war Nahrung zu finden, Zuflucht, die Gesellschaft von Menschen. Wer die Wege dorthin verwirrte, hatte diese Gesellschaft und mit aller Gnade auch sein eigenes Leben verwirkt.
    Während er unseren Wagen im Kriechgang durch Geröllfelder manövrierte, hatte mir der Fotograf von den Vogelfreien und Ausgestoßenen des alten Island erzählt, die ins Hochland verbannt worden waren und sich hier gegenseitig bekriegten oder über die wenigen Reisenden herfielen, die gezwungen waren, die Einöde zu durchqueren. Einer der berüchtigtsten dieser Verbannten sei zum Helden einer der unzähligen isländischen Sagas geworden – ihm hatte der Scharfrichter auch noch ein Bein abgehackt, bevor man ihn aus der Menschenwelt warf. Aber nach der Heilung seiner Wunde begann er einbeinig durch die Wildnis zu hüpfen und sich im Geröll und Lavasand immer sicherer und schneller zu bewegen, bis er auf die Kunst des Radschlagens verfiel, in der er es über die Jahre in der Einsamkeit zu einer solchen Vollkommenheit brachte, daß er schließlich, eine in Staub gehüllte, radschlagende Gestalt, schneller war als jedes seiner flüchtenden Opfer. Wer den ihn umhüllenden Staubwirbel wie ein Irrlicht auf sich zutanzen sah, war verloren.  
    In unseren Zeltnächten, in kahlen, kalten Hütten oder während er mit scheinbar unerschöpflicher Geduld auf das beste Licht wartete, in dem er die Reste eines Steinmals im Nirgendwo abbilden wollte, hatte mir der Fotograf die Hochlandwüsten aber nicht bloß als das Reich der Ausgestoßenen beschrieben, sondern auch als das der Feen, der Trolle und Geister und hatte mir dazu

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