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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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leid«, sagte sie und tat die Eiswürfel wieder ins Glas. »Es tut mir leid.«
    Langsam ging ich auf sie zu, bis ich direkt vor ihr stand. Der durchgeweichte Teppich quatschte unter meinen Füßen.
    »Nicki«, sagte ich.
    Sie brach wieder in Tränen aus. Ich streckte behutsam die Hand aus, als befürchtete ich, sie würde mir eine Ohrfeige verpassen. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie Val vor mir zurückgewichen war. Doch Nicki packte meine Hand und zog mich an sich.
    Ich schlang die Arme um sie. Meine Schulter wurde nass von ihren Tränen, ihre Haut war heiß und feucht. Als ich merkte, dass ich ihr ins Haar atmete, drehte ich den Kopf und schmiegte die Wange gegen sie.
    Ihr Schluchzen ging in Schniefen über. Sie presste das Gesicht gegen meine Schulter. Im Hintergrund summte die Klimaanlage, ein weißes Rauschen, das ich normalerweise gar nicht wahrnahm. Draußen zirpten die Zikaden.
    »Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt«, sagte sie.
    »Wer bin ich denn, um das zu beurteilen?«
    Wir lachten leise. Dann seufzte sie und ließ mich los.
    »Wer ist Bruce Macauley?«, fragte ich.
    »Wer?«
    »Der Junge, von dem du behauptet hast, er sei am Wasserfall umgekommen. Hast du dir den Namen nur ausgedacht?«
    Sie starrte eine Weile ins Leere, dann lachte sie. »Ich hatte ganz vergessen, dass ich diesen Namen genannt habe. Das war ein Junge, der mit mir in die zweite Klasse gegangen ist. Glücklicherweise ist die Familie damals weggezogen. Er hat dauernd Frösche und Eichhörnchen getötet und meine Freundinnen und mich immer mit Steinen beworfen.«
    Ich brachte das Glas in die Küche und nahm einige Handtücher mit ins Wohnzimmer, um sie auf den nassen Fleck im Teppich zu legen.
    Nicki folgte mir hinaus auf die Terrasse. Es war wieder ein heißer Tag geworden. Die Sonne knallte uns ins Gesicht und auf die Schultern. Ich lehnte mich gegen die Brüstung und schaute zu den Bäumen hinüber. Nach einer Weile spürte ich ihren Blick und drehte mich zu ihr. »Was ist?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sagen: nichts. Trotzdem sah sie mich weiterhin forschend an.
    Es war, als würde ich zum ersten Mal wahrgenommen. Wenn ich mich hinter der Glasscheibe befand, kam ich mir unsichtbar vor, obwohl Glas ja eigentlich durchsichtig ist. Damals in der Schulbibliothek war ich unsichtbar gewesen. Trotz der grellen Neonbeleuchtung hatte niemand bemerkt, wie ich den Pullover stahl. Auch an meiner neuen Schule war ich unsichtbar gewesen, sah man einmal von der Aufmerksamkeit ab, die mir die Gerüchte über meinen Selbstmordversuch eintrugen. Dass andere etwas über einen wissen, heißt noch lange nicht, dass sie einen zur Kenntnis nehmen .
    Aber Nicki nahm mich wahr.
    »Dann werde ich wohl nie erfahren, was mit meinem Dad passiert ist, oder?«, sagte sie. Sie stand so dicht neben mir, dass mir der Duft ihrer Haut und ihrer Haare in die Nase stieg. Offenbar benutzte sie kein Parfüm. Trotzdem roch sie gut – nach Wald, Zitrusfrüchten und Kiefernnadeln.
    »Vermutlich nicht.«
    »Darf ich dich mal was fragen?« Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger.
    »Was denn?«
    »Denkst du jetzt immer noch daran, dich … umzubringen?«
    »Nein«, sagte ich automatisch, denn das war die Antwort, die ich Dr. Briggs immer auf diese Frage gab. Ebenso wie meinen Eltern. Aber dann sagte ich: »Ja, doch«, um nach einer kurzen Pause hinzuzufügen: »Manchmal.«
    Hatte ja keinen Sinn, sich was vorzumachen. Schließlich hatte ich erst vor weniger als einer Stunde darüber nachgedacht.
    »Und warum?«, wollte Nicki wissen.
    »Keine Ahnung. In schlimmen Situationen schießt mir der Gedanke einfach irgendwie durch den Kopf. Ernsthaft in Erwägung ziehe ich es schon lange nicht mehr. Aber nachdenken tu ich ständig darüber.«
    Das hatte ich noch nie jemandem gestanden, weil ich Angst hatte, wieder weggesperrt zu werden, wenn ich es meinen Eltern oder Dr. Briggs erzählte. Meine Eltern würden mir danach mit Sicherheit nie mehr vertrauen. Das taten sie ja jetzt schon nur mit Vorbehalten. Doch Tatsache war, dass Selbstmord immer eine Alternative war – eine Alternative, die zwar ganz unten auf meiner Liste stand, die aber so wie das Kleingeld für den Bus, das ich damals in West Seaton immer in der Hosentasche gehabt hatte, stets in Reichweite war. Nur für alle Fälle.
    Nicki legte mir die Hand auf den Rücken, zuerst so leicht, dass ich es kaum spürte. Da ich nicht zurückzuckte, verstärkte sie den Druck ihrer

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