Verfuehrung im Walzertakt
1. KAPITEL
September 1813, Tyne Valley, Northumberland
Diana Clare lag ein unerhört hässlicher Fluch auf den Lippen, ein Schimpfwort, von dem niemand annehmen würde, es sei einer unverheirateten Frau wie ihr überhaupt bekannt. Obwohl stark versucht, dem überwältigenden Verlangen lauthals zu fluchen nachzugeben, machte sie ihrem Ärger lediglich durch einen kurzen, kaum hörbaren Ausruf der Verdrossenheit Luft.
Ihre Stute Jester drehte daraufhin den Kopf und warf ihr einen empörten Blick zu. Bekümmert lehnte sich Diana auf der Sitzbank des Gigs zurück, denn insgeheim musste sie Jester recht geben. Sie hatte ihre Wut nicht bezähmt und damit eine ihrer eisernen Regeln gebrochen, die besagte, dass eine Dame niemals so unvernünftig sein durfte, sich von leidenschaftlichen Gefühlen übermannen zu lassen.
Sie holte tief Luft, zählte bis zehn und versuchte, die Situation gelassen zu nehmen, obwohl das Gig sich tief im Matsch festgefahren hatte und das Pochen hinter ihren Schläfen sich zu heftigen Kopfschmerzen auszuwachsen drohte. Als wäre dies nicht bereits schwer genug zu ertragen gewesen, fing Jester nun auch noch an, das süße Wiesengras in aller Seelenruhe büschelweise auszurupfen und schmatzend zu verspeisen.
Sich eine verirrte Locke hinter das Ohr streichend lugte Diana vorsichtig über den Rand des Einspänners. Sie allein trug die Schuld daran, dass der Wagen im Schlamm festsaß, daran ließ sich nichts deuteln. Aber Einsicht und der Wunsch, diese Einsicht zuzugeben, waren zwei verschiedene Paar Schuhe.
Natürlich hätte sie während der Fahrt nicht lesen sollen, obgleich sie das starke Bedürfnis verspürte, den grässlichen Besuch bei Lady Bolt und den dort vereinten schnatternden Klatschbasen aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Ungeniert hatten die Damen den Namen einer anderen Frau durch den Schmutz gezogen und damit deren Ruf ruiniert.
Es war ihr daher wie Vorsehung erschienen, dass der letzte Band von „Stolz und Vorurteil“ für sie bereitlag, als sie auf dem Rückweg in der Leihbücherei vorbeischaute. Das Buch bot ihr die Möglichkeit, ihre Gedanken von der schrecklichen Teegesellschaft abzulenken und ihre Ausgeglichenheit wiederzugewinnen. Die ersten beiden Teile hatte sie förmlich verschlungen. Als nun der sehnsüchtig erwartete dritte Band endlich neben ihr auf dem Sitz lag, hatte sie einfach nicht widerstehen können.
Oft hatte sie zu ihrem Bruder im Scherz gesagt, Jester kenne den Weg in- und auswendig, sie fände von ganz allein nach Hause. Die laschen Zügel, dazu das verlockende Gras am Wegesrand, stellten sich indes als zu große Versuchung für die Stute heraus. Unbemerkt von Diana, die in eine weitere Szene zwischen Miss Elizabeth Bennet und Mr. Darcy vertieft war, hatte Jester das Gig geradewegs in das Schlammloch gezogen.
Ihren Strohhut richtend maß Diana mit den Augen die Entfernung zu der Stelle, an der sie festen Boden unter den Füßen haben würde. Es könnte ihr leicht gelingen, das kurze Stück mit einem Sprung zu überwinden, selbstverständlich würdevoll und in damenhafter Weise. Auf das Beste hoffend sprang sie hinunter und landete, nur wenige Schritte vom trockenen Weg entfernt, mit den Stiefeletten mitten im feuchten Schlick.
Diana schnaubte verärgert, denn zu allem Übel rutschte ihr auch noch der Hut vom Kopf und entschwebte in den Matsch. Mit spitzen Fingern hob sie den Strohhut am Band auf.
„Eine Schönheit in Nöten“, hörte sie unvermittelt eine fremde Männerstimme hinter sich, kultiviert klingend, wenn auch ein deutlicher Unterton von Arroganz darin durchschimmerte.
Ihr wurde die Kehle eng, das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren. Ganz unvermutet hatte sich ihre Situation um ein Vielfaches verschlimmert.
„Von Nöten kann gar keine Rede sein“, erwiderte Diana, ohne sich zu dem Fremden umzudrehen. Wenn sie ihn der Etikette entsprechend behandelte, würde er sie in Ruhe lassen. Nichts Unziemliches würde geschehen, wenn sie sich wie eine Dame benahm. „Mein Gig hat sich festgefahren. Dieses kleine Problem werde ich indes mit Ruhe, Umsicht und Gelassenheit schon lösen.“
Ohne den Mann eines Blickes zu würdigen, hielt Diana, auf einem Bein balancierend, nach einer einigermaßen schlammfreien Stelle Ausschau, auf die sie ihren Fuß setzen konnte. Möglicherweise würde der Fremde sich schneller entfernen, wenn sie ihm keinerlei Beachtung schenkte. Wäre er erst gegangen, würde auch die quälende Beklommenheit
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