Auch Deutsche unter den Opfern
natürlich dieses Buch nun wirklich mal: eine Provokation. Es geht um Leben und Tod, und dies in einer Deutlichkeit, die jedem Leser kalt ans Herz greifen muss.
Gibt es noch Fragen? Hm.
Der Künstler, der »sich infrage stellt« – das ist der Superkitsch. Hier liegt der Fall anders, er liegt auf dem Krankenbett; der Künstler wird vollständig infrage gestellt, nämlich vom Tod bedroht, und da legt er los, wehrt sich, gibt auf, kämpft wieder, trifft testamentarische Vorbereitungen, plant dann wieder kühn, um kurz darauf zu sinnieren, wie er sein Leiden abkürzen könnte. Seine Ratlosigkeit macht dieses Buch zu einem wahrhaftigen Ratgeber, im Unterschied zu all den verlogenen Erbauungsbüchlein, die unter diesem Gattungsbegriff firmieren. Und obendrein ist es ein theologisch brisantes Werk.
Als »bibelfest« wird bezeichnet, wer genau weiß, wo welches Sprüchlein steht. Schlingensief dagegen flippert sich durch die Bibel, seine Bibelfestigkeit besteht darin, dass er sie und mit ihr die Idee Gott in diesem tosenden Überlebenskampf nicht loslässt: »Aber ich muss trotzdem sagen, diese Sache mit Gott ist echt noch offen.«
Einmal bedauert er, die Bibel nie richtig gelesen, lediglich Bilder daraus isoliert und in seinen Arbeiten zitiert zu haben. Wie er überhaupt immer in allem zuvörderst Bilder kreieren will. »Überblendungen!«, höre ich ihn beständig attestieren oder fordern, in Afrika oder auf Sylt, auf der Kegel- oder in der U-Bahn. »In das Bild hineintreten, es verändern!«
Zuhause, oben auf meinem Bücherregal, steht eine schwarze Pappschachtel, die Schlingensief mir zu meinem 25. Geburtstag geschenkt hat: »Seeing India«. Darin liegen vier Filmrollen und zwei Schallplatten, mittels derer man eine Ton-Bild-Schau über Indien abfahren kann. Auf die Schachtel hatte Schlingensief geschrieben: »Nie wieder Zukunft! Dein Christoph S.« Und jetzt lese ich in seinem Buch: »Wenn ich in einem Buchladen in Büchern über fremde Länder blättere, dann rollen schon die Tränen.« Zwei Seiten weiter grübelt er mit seiner Freundin, wo sie – falls das möglich wäre – am liebsten wiedergeboren würden: »an Afrika oder Indien gedacht … weiß ich nicht, was da los ist, vielleicht ist das eine Ecke in meinem Dasein, die ich noch kennenlernen müsste.«
Den »Seeing India«-Schachtelinhalt habe ich nie in Betrieb genommen, aber gleich heute Abend werde ich mich mittels dieser Ton- und Bild-Konserven nach Indien aufmachen, Bilder von Indien sehen, dazu Geräusche aus Indien und Erzählungen über Indien hören. »Land and Climate, Agriculture, Manufacturing, People and Culture«.
So schön wie hier kann es dort allemal sein.
[ Inhalt ]
Der 9. November:
Ein Gespräch mit Alexander Kluge
Alexander Kluge: Wir sind angeschrieben worden von Bischof Huber, einen Text zu verfertigen für ein Lesebuch »20 Jahre Mauerfall«.
Stuckrad-Barre: Und wir wollten stattdessen lieber ein Gespräch führen. So ein klassisches Alexander-Kluge-Gespräch, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Sie sitzen in Sicherheit hinter der Kamera, sind für die interessanten Gedanken zuständig, ich sitze im hellen Licht, mein Cord-Jackett ist viel zu warm dafür – also, legen wir los.
Kluge: Sie sind 14 Jahre alt, als am 9. November 1989 die Mauer fällt.
Stuckrad-Barre: Ja, und ich liege im Bett, erfahre erst am nächsten Morgen beim Frühstück davon. Da hieß es: Die Mauer ist offen. Ja nun, denkt der 14-Jährige – und geht zur Schule.
Kluge: Wenn ich von einem Menschen eine Nachricht erhalte, das ist eine Botschaft, die kann ich auf Vertrauenswürdigkeit untersuchen mit dem Ohr. Mit dem Auge ist es sehr schwer.
Stuckrad-Barre: Die Bilder, die das Gedächtnis zu dieser Nachricht abgespeichert hat, sind geliehene Erinnerung. Denn die Szenen, die Bischof Huber in seinem freundlichen Brief als Erinnerungsbeispiele beschrieb, sind natürlich die, die ich aus dem Fernsehen kenne und die man leicht mit der eigenen Erinnerung verwechselt. Also, als in Berlin alle die Mauer hochkletterten und sich in die Arme fielen, lag ich im Bett.
Kluge: Aber wenn Sie sich erinnern an Kennedys Tod …
Stuckrad-Barre: Gutes Beispiel: An die Ermordung Kennedys kann ich mich hervorragend erinnern, obwohl ich damals noch gar nicht geboren war. Ich habe all diese Dokumentationen so oft im Fernsehen gesehen, das Schulbuchlager …
Kluge: Der von Agenten geführte Attentäter, der dann selber erschossen wird, der andere, der so vorspringt. Das
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