Herz in Fesseln
1. KAPITEL
Die langen Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die Sandsteinmauern von Otterbourne House in goldenes Licht. Während Anna über den gepflegten Kiesweg auf das Haus zuging, nahm sie ihre Puderdose aus der Handtasche und warf einen letzten prüfenden Blick in den kleinen Spiegel.
Normalerweise zog sie in ihrem Privatleben einen natürlichen Look vor, doch an diesem Abend hatte sie sämtliche Register gezogen. Ihr Spiegelbild zeigte einen perfekten porzellanzarten Teint und ausdrucksvolle Wangenknochen. Der sorgfältig aufgetragene steingraue Lidschatten betonte das tiefe Blau ihrer Augen, und ihre vollen Lippen schimmerten in einem verlockenden Scharlachrot.
Seit ihre beste Freundin Kezia Niarchou und deren Mann Nik Otterbourne House bezogen hatten, war das wunderschöne Landhaus in Hertfordshire zu einer Art zweiter Heimat für Anna geworden. Bei jedem anderen Besuch hätte sie irgendetwas Legeres angezogen, um mit ihrem kleinen Patensohn Theo nach Herzenslust auf dem Fußboden herumtoben zu können. Aber dieser Abend war nicht wie andere. Daher hatte sie sich für ein elegantes schwarzes Cocktailkleid entschieden, in dem sie ganz ihrem glamourösen Image gerecht wurde: Anneliese Christiansen – international begehrtes Topmodel und das Gesicht eines weltberühmten Kosmetikkonzerns.
„Na endlich, Anna!“, tadelte Kezia sie gutmütig, als sie die Tür öffnete. „Eine kleine Verspätung mag ja zum guten Ton gehören, aber du übertreibst es.“
„Tut mir leid.“ Anna umarmte Kezia und trat in die Halle. „Hast du meine SMS nicht bekommen? Mein Wagen hatte einen Platten, aber zum Glück kam gerade der junge Mann aus der Wohnung unter mir vorbei und hat den Ersatzreifen für mich aufgezogen.“
„Ein echter Glücksfall“, pflichtete Kezia ihr trocken bei. „In dem Aufzug hättest du schlecht dein Auto aufbocken können.“ Sie musterte ihre Freundin bewundernd von Kopf bis Fuß. „Ich wüsste ja zu gern, wen du mit diesem umwerfenden Outfit beeindrucken möchtest.“ Als Anna darauf leicht errötete, blitzte es in ihren dunklen Augen auf. „Lass mich raten: Könnte es vielleicht Damon sein?“
„Wohl kaum.“ Erleichtert stellte Anna fest, dass sie genau den richtigen Tonfall getroffen hatte – amüsiert und eine Spur gelangweilt. Seit ihrem ersten Jahr im Internat waren sie und Kezia enge Freundinnen. Gemeinsam hatten sie die bittere Scheidung von Annas Eltern und Kezias Kampf gegen die Leukämie durchgestanden, doch es gab Dinge, die Anna nicht einmal Kezia anvertrauen konnte. Insbesondere ihre unerklärliche Faszination für Niks Cousin Damon Kouvaris.
Der millionenschwere Bauunternehmer galt als knallharter Geschäftsmann und notorischer Playboy mit einem Faible für schöne Blondinen, und Anna hatte nicht vor, die Liste seiner Eroberungen noch zu verlängern. Umso ärgerlicher war es, dass es ihr in den vergangen zwei Monaten trotz aller Bemühungen nicht gelungen war, ihn aus ihren Gedanken zu vertreiben.
Als Anna an Kezias Seite den Salon betrat und die vertrauten Gesichter ihrer Freunde erblickte, löste sich ihre innere Anspannung ein wenig. Niks Cousin war noch nicht eingetroffen, jedenfalls konnte sie ihn nirgends entdecken.
„Anna, wie schön dich zu sehen!“ Nikos Niarchou kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. Groß, dunkel und ungemein attraktiv, war Nik ein echter Frauentyp. Doch für Kezia hatte er ohne Bedauern sein sorgloses Jetset-Dasein gegen das Leben eines hingebungsvollen Ehemanns und Vaters eingetauscht. Er umarmte Anna herzlich und küsste sie auf beide Wangen, doch gleich darauf kehrte sein Blick zu seiner Frau zurück.
Anna gönnte den beiden ihr Glück von Herzen, wenngleich sie selbst der Institution Ehe sehr skeptisch gegenüberstand. Ihre Eltern machten beide gerade jeweils den dritten Versuch, und sie verspürte keinerlei Bedürfnis, deren Beispiel zu folgen.
Als sie in die Runde blickte und feststellte, dass sie als Einzige ohne Partner gekommen war, kehrte unvermittelt ihre Nervosität zurück. Normalerweise spielte bei gesellschaftlichen Anlässen einer ihrer Kollegen oder ein befreundeter Schauspieler die Rolle ihres Begleiters. Heute hatte sie darauf verzichtet, da sie wusste, dass außer Damon nur Freunde da sein würden. Sie konnte nur hoffen, dass er mit einer seiner zahlreichen Geliebten erscheinen würde. Schon die bloße Vorstellung, den ganzen Abend über neben ihm zu sitzen, brachte sie aus dem Gleichgewicht.
„Was möchtest du
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