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Auf dem Zeitstrom

Auf dem Zeitstrom

Titel: Auf dem Zeitstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
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hinunterzuschippern, ohne irgendwelche Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Und jetzt hatte er die Möglichkeit dazu. Er konnte tausend haarsträubende Abenteuer bestehen, konnte Herzöge, Grafen und Könige kennen lernen und all die in ihm auflodernden Sehnsüchte stillen. Es blieb ihm überlassen, ob er faul sein wollte, ob er fischen ging, Tage und Nächte hindurch Gespräche führte, ohne daran denken zu müssen, sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Er konnte sich Tausende von Jahren dahintreiben lassen auf dem großen Strom und tun, was ihm gerade in den Sinn kam.
    Das Ärgerliche an der ganzen Sache war nur, daß das alles nicht stimmte. Es gab einfach zu viele Gebiete, in denen die Gralsklaverei vorherrschte, in der irgendwelche Schmarotzer Gefangene machten, die sie zwangen, die Inhalte ihrer Gräle abzuliefern, damit sie sich daran bereichern konnten: Zigarren, Likör und Traumgummi. Sie ließen ihren Sklaven nur das Allernotwendigste, gerade soviel, daß sie nicht verhungerten, denn sonst hätten die Gräle die Warenproduktion eingestellt. Die Sklaven wurden an Händen und Füßen aneinandergefesselt, wie Hühner auf dem Weg zum Schlachter, damit sie keinen Selbstmord begehen konnten. Und selbst wenn es einem dieser bedauernswerten Geschöpfe gelingen sollte, sich selbst umzubringen: Die Möglichkeit, daß er – wenn er Tausende von Meilen vom Ort seiner Qualen erneut erwachte – wieder in eine ähnliche Situation geriet, war ebenso groß wie die Chance, der Sklaverei zu entgehen.
    Aber es gab auch noch einen anderen Grund, weswegen Sam nicht die Zügel fahren ließ: Er war ein erwachsener Mann und kein kleiner Junge mehr, für den es nichts Großartigeres gab, als ein paar Jahre auf der Walze zu verbringen. Nein – wer die Absicht hatte, aus purem Vergnügen den Fluß zu befahren, benötigte Schutz, Bequemlichkeit und – das war eine unleugbare Tatsache – Autorität. Und außerdem strebte er danach, irgendwann einen großen Flußdampfer zu steuern, wie er es schon auf der Erde getan hatte. Irgendwann würde er der Kapitän eines solchen Schiffes sein, und dann würde ihm das größte, schnellste und ausdauerndste Fahrzeug auf dem größten Fluß dieser Welt gehören. Er würde es über einen Strom steuern, der mächtiger war als der Mississippi-Missouri und all seine Nebenflüsse, der Nil, der Amazonas, der Kongo, der Ob, der Yellow River und die Donau zusammengenommen. Sein Schiff würde oberhalb der Wasserlinie sechs Decks aufweisen und über zwei überdimensionale Schaufelräder verfügen. Es würde luxuriöse Kabinen für viele Passagiere und die Mannschaft haben, und jeder einzelne an Bord würde ein Angehöriger jener Gruppe von Menschen sein, die zu den größten Berühmtheiten ihrer Zeit gehört hatten. Und er, Samuel Langhorne Clemens alias Mark Twain, würde es befehligen. Das Boot würde nicht eher anhalten, bis es zu den Quellen des Flusses vorgedrungen war und die Passagiere an Land gingen, um jene Ungeheuer herauszufordern, die diese Welt geschaffen hatten und die Menschheit zwangen, noch einmal all den Schmerzen, Frustrationen, Sorgen und Qualen ausgesetzt zu sein, die sie auf der Erde durch ihren Tod hinter sich gelassen zu haben glaubten. Vielleicht würde die Reise hundert Jahre dauern, möglicherweise auch zwei- oder dreihundert; aber das hatte nichts zu bedeuten. Auch wenn es dieser Welt an manchem mangelte: Zeit gab es hier im Überfluß.
    Seine ausgeprägte Fantasie gaukelte Sam einen mächtigen Raddampfer vor, in dessen Steuerhaus er als Kapitän am Ruder stand. Sein erster Maat würde vielleicht Christoph Kolumbus sein – oder Sir Francis Drake, und zweifellos würde Alexander der Große oder Julius Caesar (sicher auch Ulysses S. Grant) einen guten Ersten Offizier abgeben.
    Sogleich fiel ein Tropfen Wermut in den goldenen Weinbecher seiner Fantasie und zerstörte den Traum. Was die beiden frühzeitlichen Hundesöhne Alexander und Caesar anging, so würden die sich sicher nicht damit zufrieden geben, in untergeordneten Positionen Dienst zu tun. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sie von dem Tag an, wo sie das Schiff betraten, finstere Ränke gegen den rechtmäßigen Kapitän schmieden und alles daransetzen würden, dessen Autorität zu untergraben. Und würde sich ein solch bedeutender Mann wie Ulysses S. Grant dazu herabwürdigen lassen, den Befehlsempfänger von Sam Clemens zu spielen, den Untergebenen eines Humoristen und Literaturwissenschaftlers

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