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Auf dem Zeitstrom

Auf dem Zeitstrom

Titel: Auf dem Zeitstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
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Seltenheit darstellten. Diejenigen, die plötzlich in dieses Gebiet »versetzt« worden waren, mußten sich vorerst damit begnügen, gebogene Bambusstäbe mit Hilfe von geflochtenen Seilen aus Gras zu verbinden und sie mit den großen Elefantenohrblättern der Eisenbäume zu bedecken. Von den fünfhundert verschiedenen Bambussorten, die in diesem Gebiet sprossen, waren einige auch dazu geeignet, als Messer Verwendung zu finden, indem man sie spaltete und bearbeitete. Nur verloren diese primitiven Werkzeuge bereits nach kurzer Zeit wieder ihre Schärfe.
    Sam betrat seine Hütte, legte sich auf das Feldbett und deckte sich mit mehreren Tüchern zu. Der schwache Klang eines weit entfernten Zechgelages hinderte ihn am Einschlafen. Nach einer Weile des Nachdenkens entschied er sich dafür, ein Stück Traumgummi zu nehmen. Er hatte keine Möglichkeit, vorherzusagen, wie es auf ihn wirken würde: Es konnte ebenso gut in eine Ekstase verfallen, die so glänzend und farbig war, daß er die ganze Welt für in Ordnung halten würde, wie auch einen starken sexuellen Drang verspüren – oder der Illusion erliegen, daß tausend klauenbewehrte Ungeheuer aus der Dunkelheit nach ihm griffen und ihn in Angst und Schrecken versetzten: die vergessenen Geister und Dämonen der alten Erde, die prasselnden Flammen entsprangen, während gesichtslose Teufel wegen seiner Entsetzensschreie in ein satanisches Gelächter ausbrachen.
    Er kaute, schluckte seinen Speichel hinunter und wußte im gleichen Augenblick, daß er einen Fehler gemacht hatte. Aber da war es schon zu spät. Während er weiterkaute, erschien vor seinen Augen eine Szene, die seiner Jugendzeit entstammte: Er sah, wie er ertrank oder zumindest nahe daran war, zu ertrinken, denn jemand zog ihn im letzten Moment aus dem Wasser. Dies war mein erster Tod, dachte er, und dann… Nein, ich starb während meiner Geburt. Das ist komisch, meine Mutter hat mir nie davon erzählt.
    Er konnte jetzt seine Mutter sehen, wie sie auf dem Bett lag: Ihr Haar war ungeordnet, ihre Haut bleich, ihre Augen halbgeöffnet, ihr Kinn war heruntergefallen. Der Doktor war dabei, das Baby – ihn selbst, Sam – zu holen, und er rauchte dabei eine Zigarre. Dabei sagte er, ohne die Lippen zu bewegen, zu Sams Vater: »Es ist kaum meiner Mühen wert.«
    Sein Vater sagte: »Bedeutet das, Sie hätten nur ihn oder Jane durchbringen können?«
    Der Arzt war ein Mann mit buschigem roten Haar und einem dicken, gezwirbelten Schnauzbart. Er hatte blaßblaue Augen und ein Gesicht, das fremdartig und brutal wirkte. Er erwiderte: »Meine Fehler pflege ich zu beerdigen. Aber Sie machen sich zu viele Sorgen. Ich werde dieses Fleischklößchen durchbringen, auch wenn es sich kaum lohnt. Und ich kriege auch sie wieder hin.«
    Er packte Sam ein und legte ihn auf das Bett. Dann setzte er sich hin und schrieb etwas in ein kleines, schwarzes Buch. Sams Vater sagte: »Müssen Sie das ausgerechnet jetzt tun?«
    Der Arzt sagte: »Ich muß es tun, aber es ginge wirklich schneller, wenn ich während des Schreibens nicht auch noch Fragen beantworten müßte. Dies hier ist mein Tagebuch, in das ich all die Seelen eintrage, die ich auf die Welt bringe. Eines Tages werde ich ein Buch über diese Kinder schreiben und herauszufinden versuchen, was aus ihnen geworden ist. Wenn ich auch nur ein Genie – nur ein einziges – in dieses irdische Jammertal gebracht habe, werde ich mir sagen können, daß ich nicht umsonst gearbeitet habe. Sollte sich das Gegenteil herausstellen, werde ich wissen, daß ich meine Zeit damit vertan habe, Idioten, Scheinheilige und Neidhammel in diese traurige Welt zu setzen.«
    Als Klein-Sam weinte, sagte der Arzt: »Hört sich an, als sei er bereits vor seinem Tod eine verlorene Seele, nicht wahr? Als spüre er alle Sünden dieser Welt jetzt schon auf seinen kleinen Schultern.«
    Sein Vater sagte: »Sie sind ein seltsamer Mensch. Irgendwie dem Bösen verhaftet, scheint mir. Sicherlich sind Sie auch nicht gottesfürchtig.«
    »Sicher«, sagte der Arzt. »Ich zahle dem Fürsten der Finsternis meinen Tribut.«
    Der Raum roch plötzlich nach Blut, dem alkoholduftenden Atem des Arztes, nach Zigarrenrauch und Schweiß.
    »Wie, sagten Sie, wollen Sie ihn nennen? Samuel? So heiße ich auch. Es bedeutet >Name Gottes<. Wirklich ein Witz. Zwei Samuels, wie? Kränklicher kleiner Teufel. Er wird es kaum erleben. Und wenn doch, wird er sich später einmal wünschen, daß es nicht so gekommen wäre.«
    Sein Vater brüllte:

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