Auf den Inseln des letzten Lichts
mein Vater, mietete ihr in Dublin eine Wohnung. Sie verließ die Wohnung ein ganzes Jahr lang nur, um einmal pro Woche einzukaufen, sagte sie. Aber wer weiß schon, ob das stimmt. Vielleicht ist sie auch jede Nacht ausgegangen und hat ihreneue Freiheit gefeiert. Warum sie nicht zur Beerdigung gekommen ist, hat sie mir auch erklärt, aber es waren nur Ausreden. Die Farm will sie nicht, sie schenkt sie uns. Toll, was? Irgendwann wusste sie nicht mehr, was sie sagen soll, und wir saßen nur da. Als Kind hatte ich mir jede Nacht eine Million Fragen zurechtgelegt, die ich ihr einmal stellen wollte, und jetzt brachte ich keine davon heraus. Die Frau, die ich sah, war meine Mutter und trotzdem eine Fremde. Vielleicht wird sich das mal ändern, schon bald oder in ferner Zukunft. Ich weiß es nicht. Sie wollte mir Geld geben für ein Taxi zum Bahnhof, aber ich nahm es nicht. Ich gab ihr die Hand zum Abschied, und als ich auf dem Flur stand, konnte ich hören, wie sie hinter der Tür weinte. Ich überlegte, ob ich noch einmal klingeln soll, aber dann bin ich gegangen.
Nachdem ich trocken und vernünftig und bei meiner Mutter gewesen war, holte Aidan zwei Koffer vom Dachboden. Sie hatten mal einem Mann gehört, den ich 20 Jahre lang für meinen Vater gehalten hatte. Und sie waren noch nie über die Grenzen Irlands hinausgekommen. Ich fragte, was ich damit soll, und Aidan meinte, auf die Philippinen fliegen und dich suchen.
Und genau das tue ich jetzt. Bevor ich aufgebrochen bin, habe ich versucht, im Internet so viel wie möglich über Jeffrey Salter herauszufinden. Über eine Dubliner Buchhandlung bin ich an eines seiner Bücher gekommen: »Wertvorstellungen. Eine kritische Betrachtung.« Du kennst es bestimmt. Ich habe es von der ersten bis zur letzten Seite gelesen und nicht einmal die Hälfte davon verstanden. Aidan rief beim Verlag in Canberra an und fragte, ob er die Adresse oder Telefonnummer von Salter haben kann, aber die haben sie ihm nicht gegeben, weder die in Darwin noch die in Manila. Also bin ich einfach los. In den beiden Koffern hatte ich einen Packen Dollar, Kopien deiner Briefe und den Namen eines alten Mannes, der statt in Manila vielleicht auch in Darwin saß oder schon nicht mehr lebte. Aber ich hatte Glück. Jeffrey Salter war tatsächlich in Manila. Aidan hatte mir den Tipp gegeben, die Philosophiestudenten an der Uni nach ihm zu fragen, und schon nach zwei Tagen fand ich eine Studentin, die ab und zu für den Professor arbeitete.
Als Salter hörte, dass ich dein Bruder bin, lud er mich zum Essen ein. Bei gebratenen Nudeln und Gemüse erzählte er mir von der Insel, auf derer vor vielen Jahren war. Er kam mir sehr freundlich und hilfsbereit vor, aber auch sehr alt und vergesslich. Einmal nannte er mich Tommy, ein andermal Robert. Immerhin erinnerte er sich daran, dass du auf die Insel wolltest und er dir gesagt hatte, wo sie ungefähr lag. Erst als ich später auf einer Karte nachsah, bekam ich eine Ahnung davon, worauf ich mich bei dieser Suche einlassen würde. Das Gebiet, das Salter mir nannte, war mindestens doppelt so groß wie Irland. Und die Karte zeigte nur einen Bruchteil der Inseln, die es in der Region gibt.
Aber jetzt bin ich hier. Seit fünf Tagen sitze ich in diesem gottverlassenen … Nest an der Küste und warte darauf, dass wir endlich losfahren. Die Hunde bellen noch immer. Ich werde diesen Brief einem Mann geben, der ein Moped hat. Die Marken für den Umschlag habe ich schon in Manila gekauft. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Das Boot, in dem mich die drei Typen zur Insel bringen wollen, macht keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck auf mich. Wenn wir auf dem Weg zu dir absaufen, bekommst du hoffentlich irgendwann diese Zeilen. Ich schicke sie an Barry, vielleicht meldest du dich ja mal bei ihm.
In einem deiner Briefe fragst du, ob ich dich vermisse. Ja, das tue ich. Sehr sogar. In einem anderen fragst du, ob ich dich hasse für das, was du getan hast. Nein, das tue ich nicht. Eine Zeitlang habe ich es, aber jetzt nicht mehr. Ich hoffe, ich finde dich, Megan. Das hoffe ich mehr als alles auf der Welt.
Wer liebt dich?
Tobey!
EPILOG
Tanvir Raihan fuhr mit dem Boot von Manhattan nach Brooklyn. Er fand, das sei die passendste Art, den letzten Teil seiner Reise zu bewältigen. Nachdem er das Wassertaxi verlassen hatte, blieb er einen Moment auf dem Landungssteg stehen und sah in die Bucht hinaus, wo sich der Hudson mit dem Meer vermengte. Ein leichter Regen
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