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Auf der Spur des Hexers

Auf der Spur des Hexers

Titel: Auf der Spur des Hexers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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die einzige, die er hatte.
    Und eine nutzlose dazu. Andara wusste mit der gleichen Sicherheit, mit der er draußen im Wald ihre Anwesenheit gespürt hatte, dass sie jetzt nicht mehr da waren. Sie waren gekommen wie immer: lautlos und mit der Plötzlichkeit einer Wüstennacht, hatten zugeschlagen und waren wieder fort, noch ehe ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt worden war. Und sie hatten seinen Sohn mitgenommen.
    Vorsichtig, das Taschentuch noch immer gegen Mund und Nase gepresst und die Augen voller Tränen, von denen er sich vergeblich einzureden versuchte, dass einzig der bestialische Gestank ihre Ursache war, bewegte er sich in den verwüsteten Raum hinein. Glas knirschte unter seinen Sohlen. Ein zerschlagener Stuhl, der durch eine Laune des Zufalles noch auf drei Beinen gestanden hatte, kippte um; die Erschütterung ließ Daunenfedern in einer lautlosen Explosion aufsteigen und sanft wie fallenden Schnee wieder herabsinken. Die Schatten bewegten sich. Aber es war nur seine eigene Angst, die sie mit Leben erfüllte.
    Andara blieb stehen, ging vor dem zertrümmerten Bett in die Hocke und stocherte mit der Degenspitze in den zerfetzten Decken. Ein paar Federn stoben hoch, schwarzglitzernder Schleim versickerte in der aufgerissenen Matratze. Für einen Moment wurde der Gestank so mächtig, dass ihm übel wurde. Er stand auf, taumelte aus dem Zimmer und lehnte sich draußen in der Diele gegen die Wand. Sein Herz jagte. Ein grausamer Schmerz tobte in seinen Eingeweiden. Er zitterte. Das Haus drehte sich um ihn.
    Kein Blut, dachte er, immer und immer wieder. Kein Blut. Keine Leiche. Bob lebte. Sie hatten ihn mitgenommen, nicht umgebracht.
    Aber wo war der Unterschied?
    Irgendwo hinter ihm scharrte etwas.
    Andara erstarrte. Er stand noch immer genau so da: das Gesicht gegen die Wand gelegt, die Linke auf Augen und Nase gepresst, den Degen locker in der anderen Hand. Und trotzdem verwandelte er sich von einer Sekunde auf die andere, spannte innerlich jede Faser seines Körpers und lauschte auf jeden noch so winzigen Laut in seiner Umgebung. Es waren plötzlich die Instinkte eines Raubtieres, die sein Denken und Handeln bestimmten, eines Raubtieres, das sein Leben auf der Jagd verbracht hatte; zur Hälfte als Jäger und zur anderen als Beute. In jeder dieser Rollen fand sich Roderick Andara perfekt zurecht.
    Er war nicht mehr allein. Das Geräusch, das er gehört hatte, war das Scharren einer ledernen Schuhsohle gewesen, so leise, dass ein Mensch mit normalen Sinnen es wohl kaum wahrgenommen hätte. Aber er war kein Mensch mit normalen Sinnen. Er war es nie gewesen, und das Leben, das er seit zehn Jahren führte, hatte ihn noch vorsichtiger werden lassen.
    Er lauschte. Das Scharren wiederholte sich nicht, aber jetzt, einmal aufmerksam geworden, fühlte er die Anwesenheit des anderen einfach, mit der gleichen, wohl auf Ewigkeit rätselhaft bleibenden Gewissheit, die einen Blinden spüren ließ, wenn er nicht mehr allein war, die einem verriet, dass jemand in einem vollkommen dunklen Zimmer war und einen mit Unbehagen erfüllte, wurde man angestarrt. Der andere stand hinter ihm, nicht einmal mehr sehr weit entfernt. Andara spannte sich. Eine blitzschnelle Drehung, ein rascher Hieb, und –
    »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Mister Andara«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Tun Sie es lieber nicht. Ich bin nicht Ihr Feind.«
    Andara drehte sich herum, straffte sich ein wenig und sah den anderen verwirrt an. Der Mann stand auf Armeslänge hinter ihm, eine schlanke Gestalt, die in der Dunkelheit wenig mehr als ein Schatten blieb, nicht ganz so groß wie er selbst. Der Geruch von teurem Herren-Parfüm und kaum weniger kostspieligem Virginia-Tabak drang in seine Nase.
    »Wer sind Sie?«, fragte Andara misstrauisch. »Was tun Sie hier?«
    Der andere lachte leise; ein Geräusch, das zwar vollkommen frei von jeder Spur echten Humors, aber trotzdem nicht unsympathisch war. »Das Gleiche könnte ich Sie fragen, Mister Andara«, antwortete er. »Obwohl ich zugebe, dass ich Ihnen gegenüber in einem gewissen Vorteil bin – ich kenne Ihren Namen und weiß überhaupt eine Menge über Sie. Aber lassen Sie mich vorab versichern, dass ich mit alledem hier nichts zu tun habe.« Er schüttelte den Kopf und trat beinahe überhastet einen halben Schritt zurück, sodass sein Gesicht in den Streifen blassen Mondlichts geriet, der durch das Fenster fiel.
    Was Andara sah, verwirrte ihn ebenso, wie sein eigener Anblick die Einwohner von Walnut

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