Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
für die Indianer waren sehr viel dramatischer: Ihre traditionelle Lebensweise war für immer zerstört. Die Bedingungen des Friedensvertrages kamen einer völligen Unterwerfung gleich. Nie wieder würden die Indianer dieser Region etwas anderes sein als Außenseiter in ihrer eigenen Heimat.
Die Nostalgie der Zeitgenossen von heute, der träumerische Blick zurück in die Vergangenheit, entzündet sich hier nicht an diesem Teil der Geschichte. Anders übrigens, wie ich noch feststellen werde, als beispielsweise im Mittleren Westen der USA. Vielleicht hängt es mit der liberalen Tradition von Neuengland zusammen, dass man sich nicht so gerne an Kriege und Menschenrechtsverletzungen erinnert, an denen die Vorfahren beteiligt waren. Wahrscheinlicher aber ist etwas anderes. Es waren ja nicht unbedingt die kämpferischen Abenteurer, die sich in Neuengland niedergelassen haben. Jene zog es in den unerforschten, aufregenden Westen. Die Einwanderung an der Ostküste wurde hingegen oft gerade von dem Wunsch beflügelt, endlich ein geruhsames Leben ohne Angst vor Not und Verfolgung führen zu können. Das merkt man der Region bis heute an.
Noch eine andere Möglichkeit der Interpretation gibt es: Es ist möglich, dass der historische Rückblick sich immer nur auf ein einziges Feld konzentrieren kann. Dass man sich also entweder der Indianerkriege oder der Flucht aus Europa oder des christlichen Missionsgedankens oder des Bürgerkrieges erinnern kann. Weil zwei – oder gar noch mehr – zentrale Themen die Nachgeborenen überfordern würden. Also uns.
Wer nach einer Bestätigung für diese letzte These sucht, hat in Neuengland einige Gelegenheiten, um fündig zu werden. Ein paar Kilometer von Carver und den Ritterspielen entfernt findet das traditionelle Moosbeeren-Fest in Edaville statt. Unter dem Motto: »Wo die guten Zeiten weitergehen.« An einem Weiher steht ein Karussell mit großen Holzpferden, das aussieht, als sei es Ende des 19. Jahrhunderts gebaut worden. Mit einer alten Bimmelbahn kann man den Schwanenteich umrunden, auf dem allerdings leider keine Schwäne zu sehen sind. Selbst gekochte Marmelade, ausgehöhlte, gruselige Halloween-Kürbisse und Rosenstöcke werden hier verkauft.
Idylle hat in diesem beschaulichen Teil der Welt viele Erscheinungsformen. Gelegentlich sogar schrille. Ebenso wie die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben. Ganz im Norden der Halbinsel Cape Cod, dort wo die Mayflower zuerst Anker geworfen hat, liegt das Städtchen Provincetown. Bis in die Fünfzigerjahre hinein war es ein beschauliches Fischerdorf, das allerdings schon Ende des 19. Jahrhunderts viele Künstler und Schriftsteller anzog. Die schöne Lage ließ es außerdem zu einem beliebten Ziel für Sommerfrischler werden.
Edward Hopper hat hier gemalt, der Dramatiker Eugene O´Neill gründete ein Theater, der Schriftsteller Norman Mailer lebte in der Stadt bis zu seinem Tod. Die Bohème bestimmte das geistige Klima. In den Sechzigerjahren kamen naturverbundene Hippies, die hier nach neuen Lebensformen suchten. Homosexuelle fanden in Provincetown schon zu einem Zeitpunkt eine tolerante Umgebung vor, zu dem sie früher andernorts Gefängnis und vollständige gesellschaftliche Ächtung zu gewärtigen hatten.
In dem Maße, in dem die Schwulenbewegung an Selbstbewusstsein gewann, veränderte sich auch das Leben des alten Fischerdorfes. In den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurde der Geheimtipp zum Programm: Mehr und mehr Homosexuelle beiderlei Geschlechts zogen nach Provincetown. 1978 schlossen sich Geschäftsleute mit dem Ziel zusammen, den schwulen Tourismus zu fördern. Sie waren überaus erfolgreich. Heute gehören 200 Unternehmer dieser Vereinigung an. In den Sommermonaten schwillt die Stadt, die im Winter nicht einmal 4000 Einwohner hat, auf mehr als 60000 Besucher an. Bei Weitem nicht alle derjenigen, die hier Wale vor der Küste beobachten, in den Dünen lagern, im Atlantik baden oder Krebse in einem der zahlreichen Fischrestaurants genießen, sind homosexuell. Viele Heterosexuelle fühlen sich ebenfalls in der weltoffenen und zugleich ländlichen Umgebung wohl, in der ein freier Geist zu regieren scheint.
Provincetown ist mir sofort eigenartig vertraut. Obwohl ich hier niemanden kenne, fühle ich mich zu Hause. Die Jahre scheinen von mir abzufallen. Für dieses Gefühl gibt es Gründe: Im kleinen Zentrum um die Commercial Street scheint die Zeit meiner Jugend wie in Bernstein eingekapselt zu sein.
In vielen
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