Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
konnten sie sich nicht leisten.« Sie zogen nach Eastham, einem etwas südlicher gelegenen Ort auf der Halbinsel. Dort leben Kinder in 21,9 Prozent der Haushalte. »Ich habe meinen High-School-Abschluss mit 52 anderen Schülern gemacht«, erzählt Mary-Jo Avellar. »Heute besteht ein Abschlussjahrgang hier aus höchstens 25 Jugendlichen.« Manchmal stimmt die Statistik tatsächlich vollständig mit den eigenen Erfahrungen überein.
Hundeprodukte hätten hier Konjunktur, sagt Mary-Jo. Es gebe exklusive Hundekekse, modische Leinen, sogar Kinderwagen für Hunde. Derzeit werde für einen Hundepark gesammelt, wo kein Leinenzwang herrschen soll. Sie liebe Hunde selber sehr, betont die 61-Jährige und zeigt auf das riesige, freundliche Untier zu ihren Füßen, aber einiges fände sie denn doch übertrieben. »Was sagt es über eine Gemeinschaft aus, wenn es dort keine Kinder mehr gibt?«
Man würde Mary-Jo Avellar völlig missverstehen, wollte man ihr unterstellen, dass sie die Entwicklung der Stadt missbillige. Im Gegenteil. »Ich will nirgendwo wohnen, wo Herr und Frau Jedermann wohnen. Ich will nicht an einem Ort wohnen, wo alle so sind wie ich.« Aber die ältere Dame ist nicht ganz sicher, dass es später einmal nach ihrem Willen gehen wird, wenn sie und ihr Mann eine altersgerechte Wohnung brauchen. »Für den Wert unseres Hauses könnten wir etwas ganz Tolles in Maine oder New Hampshire kaufen. Ob wir uns jedoch etwas Akzeptables hier in Provincetown leisten können, müssen wir abwarten.« Etwa 70 Einfamilienhäuser seien gegenwärtig auf dem Markt, der Durchschnittspreis liege bei 700 000 Dollar. Das teuerste koste 5,2 Millionen. Außerdem gebe es noch eines für 4,7 Millionen. »Nett, vier Schlafzimmer, drei Bäder. Ursprünglich wollten die Eigentümer sieben Millionen.«
Auch Mary-Jo kennt Leute, mit denen ich ihrer Meinung nach reden sollte. Vor allem mit ihrem Mann, dem stellvertretenden Hafenmeister, dem bis zum Jahr 2000 die traditionsreiche Lokalzeitung Advocate gehörte. Nach dem Verkauf an die Konkurrenz wurde sie eingestellt. Mary-Jo versucht, die Bitterkeit aus ihrer Stimme zu verbannen. Ganz gelingt es ihr nicht, aber sie fängt sich schnell: ich sollte außerdem ihre Schwester treffen, eine 60-jährige Lehrerin, die gerade pensioniert worden sei. Die wisse alles über diese Stadt.
Susan Avellar holt mich im Büro von Mary-Jo ab und führt mich ein paar hundert Meter weiter zu einem kleinen, hölzernen Haus. Es ist ein so warmer Tag, dass wir noch auf der Terrasse sitzen können – unmittelbar am Meer. »Früher war das der Holzschuppen meines Großonkels«, sagt sie. »Dann hat mein Cousin es zum Cottage umgebaut und vermietet es an Sommergäste, wenn er es nicht selbst nutzt.« Gerade sei er in Florida, wo er den Winter verbringe. »Deshalb steht es leer.«
»Ich erzähle Ihnen einfach mal etwas über die Gebäude, die Sie von hier aus sehen können. Dann bekommen Sie das beste Bild. Im Erdgeschoss des großen Hauses, das hier auf dem Grundstück hinter dem Ferienhaus steht, wohnt die 70-jährige Schwester meines Cousins. Sie ist geistig leicht behindert, lebt aber allein. Das ist für uns ein ständiger Grund zur Sorge. Der erste Stock ist an einen Künstler vermietet, der fast nie da ist. Die Mieter im zweiten Stock kommen im Winter auch nicht.« Susan steht auf und tritt an den Rand der Terrasse: »Die Häuser hier am Strand sind jetzt alle leer. Immerhin: Das da drüben auf der anderen Straßenseite neben dem Parkplatz ist ganzjährig bewohnt.« Sie geht zur Rückseite und winkt mich heran: »Das Haus hier gegenüber steht seit Jahren leer. Es gehört einer reichen Frau, die es sich leisten kann. Und in dem Apartmenthaus daneben wird von sieben Wohnungen nur eine auch im Winter genutzt.«
Man sollte sich ein Paradies nie zu genau anschauen. Es verliert dann viel von seinem Charme. Denn eine Entwicklung wie die in Provincetown hat Folgen – weitreichende, bedrohliche sogar, wie Susan Avellar erzählt. »Die Leute hier wachen langsam auf und fragen sich: Moment mal, wo wohnen eigentlich die Mitglieder unserer Freiwilligen Feuerwehr? Und wer schützt unseren Besitz vor Einbruch?«
Es gibt gute Gründe, sich das zu fragen. Vor drei Jahren ist in Provincetown die katholische Kirche St. Peter abgebrannt. Ausgerechnet unmittelbar nach einem Schneesturm. Die Feuerwehr aus dem Nachbarort Truro kam nicht durch. »Sie mussten einen Umweg fahren wegen einer vier Meter hohen Schneeverwehung auf der
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