Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
werde ja auch von allen Ländern der Welt als notwendiges Übel in Kauf genommen.
Als vorletzte Herausforderung in diesem Gedankenexperiment fragte ich Boris, wie es ihm in folgender Situation ginge: Der jugendliche Sohn der getöteten Sekretärin würde ihn im Gefängnis besuchen und fragen, warum er seine Mutter getötet habe. Hierauf erwiderte Boris weiterhin entspannt und ohne nachzudenken, dass es ihm um den Jungen etwas leid tun würde. Er würde ihm aber seine Auffassung erklären, so wie er es mir gegenüber gerade tat. Dass der Junge ihn trotzdem hassen würde, sei ihm klar. Doch er selbst würde trotzdem keine starken Gefühle deshalb empfinden, könne also gut damit leben.
Ich fragte Boris, wie er reagieren würde, wenn der Junge ihn wütend und traurig anschreien würde. Boris meinte, das könne er dann gut nachvollziehen. Er selbst würde sicherlich auch kein Verständnis für jemanden haben, der seine Mutter unter solchen Umständen töten würde. Ihm sei klar, dass er in einer solchen Situation der getöteten Frau und ihren Angehörigen etwas sehr Schlimmes antäte. Etwas, das selbst er – ginge es um seine Familie – für seine Verhältnisse sehr unangenehm fände. Daher würde er auch volles Verständnis für jede wütende und traurige Reaktion des Jungen haben.
Doch Schuldgefühle empfinde er eben kaum. Würde er sie in einer solchen Situation überhaupt empfinden, dann würden sie ihn auf keinen Fall besonders stark oder lange belasten, sagte er abschließend. Ich schätze Boris nach allem, was ich über ihn weiß, so ein, dass er diese Gedanken vollkommen ernst meint. Würde er sie jemals ausleben, dann wäre er eine Gefahr für andere Menschen.
Potenzielle Mörder, die doch nie töten
Es hat jedoch einen Grund, warum er bis heute keine Straftaten begangen hat: Solange er irgendwie zufrieden mit seinem Leben ist, tut er nichts, was ihn ins Gefängnis bringen könnte. Er kam in seinem Leben bisher gut klar, ohne Straftaten zu begehen, weil dies aus »Kosten-Nutzen-Abwägungen« der für ihn günstigste Weg war.
Auf meine Frage, für wie wahrscheinlich er es hält, dass er seinen »Plan« wahr machen könnte, antwortete er: Er würde dies nur tun, wenn er erstens alt, zweitens körperlich hinreichend eingeschränkt und drittens sehr arm wäre. Wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, dass all dies eines Tages zusammen eintreffe, wisse er nicht. Zurzeit schätzt er die Wahrscheinlichkeit aber als nicht sehr hoch ein.
Wahrscheinlich finden Sie die Gedankengänge von Boris schockierend. Möglicherweise denken Sie deshalb, Boris habe eventuell eine nicht ernst gemeinte Geschichte erfunden. Warum sollte er dies alles wirklich ernst meinen, wenn er selbst sagt, er halte es nicht für allzu wahrscheinlich, dass er in diese Situation kommen wird? Hier sollten Sie bedenken, dass die Lebensumstände tatsächlich maßgeblich darüber entscheiden können, ob Menschen eine Straftat begehen.
Die Rate der durch ihre Frau getöteten Ehemänner sank, wie schon erwähnt, in dem Maße, wie die finanzielle Absicherung von Ehefrauen, die sich scheiden ließen, stieg. Ebenso töteten Eltern früher manchmal ihre Kinder, wenn sie diese nicht mehr versorgen konnten. Auch solche Taten kommen in Deutschland kaum mehr vor, weil unser Sozialsystem derartige Notlagen verhindert.
Dies sind Beispiele dafür, dass einige Menschen in unserem Land, die vor hundert oder zweihundert Jahren zu Mördern geworden wären, es heutzutage nicht mehr werden. Diese Menschen können Ihre Nachbarn oder Ihre Freunde sein. Sie werden es nie erfahren.
Ich verstecke mich hinter einem Lächeln und einfühlsamen Augen
Wie kann es sein, dass psychopathische Menschen wie Christian oder Boris lange Beziehungen führen können, ohne dass ihre Partner bemerken, wie oberflächlich, wechselhaft und unverbindlich ihre Gefühle sind? Es liegt vor allem daran, dass normale Menschen sich die psychopathische Innenwelt kaum vorstellen können. Daher glauben sie einfach nicht, dass jemand, den sie lieben, ihnen tief in die Augen sehen oder sich reumütig entschuldigen kann – und dabei kaum etwas empfindet. Psychopathische Menschen begreifen früh, wie sie mit solchen Verhaltensweisen andere täuschen und beeinflussen können.
Christian – der sein ganzes erwachsenes Leben lang sexuelle und scheinbar feste Beziehungen hatte, über längere Zeiträume und gleichzeitig – spielte mir irgendwann ein Lied vor. Er sagte, dass ihm dieses Lied sehr gut
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