Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
normale Menschen noch wesentlich befremdlicher. Es scheint, als würde seine Auffassung von »richtig« und »falsch« im genauen Gegensatz zum Empfinden der meisten Menschen stehen: Er erwartet von seiner Freundin, dass sie ihm vertraut und glaubt. Dass sie umgekehrt von ihm erwartet , sie nicht zu belügen und zu betrügen, empfindet er für sich nicht im Entferntesten als verbindlich. Da er es keineswegs als »falsch« empfindet, untreu zu sein und somit das Vertrauen seiner Freundin zu hintergehen, hält er seine diesbezüglichen Lügen ebenso wenig für »falsch«. Aus seiner Sicht tut er für seine Freundin etwas »Gutes«, indem er sie belügt: Er beschützt sie.
Christian ist bewusst, dass seine Freundin unter der Wahrheit leiden würde; wenn er lügt, wird sie also nicht verletzt. Wie er im weiteren Gespräch mit mir äußerte, sieht er das Problem nicht darin, dass er fremdgeht, sondern dass seine Freundin »dies nicht verkraftet«. Aus seiner Sichtweise würde sie – sollte sie die Wahrheit erfahren – also nicht dadurch verletzt werden, dass er sich »falsch« verhält, sondern dadurch, dass sie mit dem, was er tut, nicht »richtig« umgehen kann.
Indem er sie anlügt, beschützt er sie davor, aufgrund ihrer eigenen »Unfähigkeit« verletzt zu werden. Daraus leitet er ab, dass er von ihr erwarten kann, seine gut gemeinten Lügen zu glauben. Wenn sie dies nicht mehr tun sollte, weil sie anderen mehr glaubt als ihm, wäre sie aus seiner Sicht selbst schuld an ihren daraus resultierenden schlechten Gefühlen. Frei nach dem Motto: »Wer die Wahrheit nicht verträgt, der sollte auch nicht danach suchen«, sieht er keinen Grund, sich beim Auffliegen seiner Lügen auch nur im Entferntesten schuldig zu fühlen.
Spielregeln psychopathischer Entscheidungen
Diese Art zu denken und zu fühlen – beziehungsweise eben nicht zu fühlen – können normale Menschen kaum begreifen. Wie Christian sein Fremdgehen wahrnimmt und bewertet, ist nur ein verhältnismäßig harmloses Beispiel dafür, was in psychopathischen Menschen vorgeht, wenn sie entscheiden, was »richtig und falsch«, was »Schuld und Unschuld« ist. Ihr Verhalten folgt anderen »Spielregeln« als das der meisten Menschen.
Die »normalen« Spielregeln sind ihnen allerdings zumindest theoretisch klar – auch wenn sie viele davon für unsinnig halten und Mitmenschen belächeln, die sich an diese gebunden fühlen. Umgekehrt wissen diese meist nicht, wenn sie es mit einem psychopathischen Menschen zu tun haben, und rechnen nicht mit dessen »Spielregeln«. Das verschafft psychopathischen Menschen Vorteile, wenn sie andere bewusst beeinflussen.
Psychopathische »Spielregeln« lassen sich teilweise aus wissenschaftlichen Untersuchungen erkennen. Ein Forscherteam aus Regensburg konnte 2010 zeigen, dass männliche Kriminelle mit stark ausgeprägten psychopathischen Eigenschaften andere Gewissensentscheidungen trafen als männliche Kriminelle ohne solche Eigenschaften. Stark psychopathische Kriminelle hatten in Konfliktsituationen auffällig häufig keine Probleme damit, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und dafür allgemeingültige ethische Regeln (wie beispielsweise »Du sollst nicht lügen oder stehlen«) zu brechen. Die untersuchten Personen gaben auch an, wie sie sich bei den einzelnen Entscheidungen fühlten. Psychopathen kamen wesentlich besser damit zurecht, ethische Regeln zu brechen, als die nicht-psychopathischen Befragten.
Christian hat nicht ganz so stark ausgeprägte psychopathische Eigenschaften wie die kriminellen Psychopathen der Untersuchung aus Regensburg. Dennoch entspricht die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der er seine Freundin betrügt und belügt, ihren ungewöhnlichen Gewissensentscheidungen und Gefühlen.
Ein krasseres Beispiel für solche eher »gewissenlosen« Gewissensentscheidungen bot Boris, ein anderer meiner mittelgradig psychopathischen, nicht-kriminellen Interviewpartner. Ich fragte ihn, wie er sich seine Zukunft im Alter vorstellt. Boris kümmert sich nicht um seine Altersvorsorge und betont stets, nur im Hier und Jetzt zu leben. Mit der typisch emotionslosen, ruhigen Stimmlage, die ich von all meinen psychopathischen Interviewpartnern gewohnt bin, wenn sie mit mir alleine sprechen, schilderte er folgenden »Plan« für seine »Altersversorgung«:
Heutzutage könne ja kein Mensch wissen, was in zwanzig oder dreißig Jahren sein wird. Aber sollte er dann tatsächlich in Armut leben und sich selbst als »alt«
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