Auf ewig und einen Tag - Roman
meiner Kehle stiegen Laute auf wie die eines verletzten Kätzchens. Justin würde mich darüber nicht belügen. Nicht einmal Justin würde das tun.
Justin Caine, las ich, während die Schrift vor meinen Augen verschwamm, ist einer der beliebtesten Kinderbuchautoren Amerikas. Seine magischen Canardia-Geschichten, die von ihm und seiner Frau Eve Barnard-Caine stammen, sind in drei Ländern zu Bestsellern geworden. Er, seine Frau und seine Tochter leben in ihrem Elternhaus in Rhode Island.
Das Foto auf dem Umschlag zeigte Justin und Gillian. Sie hat sein sandig blondes Haar, mein eckiges Kinn, sein verschmitztes Lächeln und meine graugrünen Augen. Sie war das Kind, das wir gehabt hätten, und sie gehörte Eve.
Sie ist krank, Kerry, sie stirbt.
Ich blickte auf die zarten Narben an meinem Handgelenk, zwei Linien, die sich überkreuzen, gezackt und zornig. LoraLee
hatte vor langer Zeit gesagt, bloßes Wünschen könne Dinge wahr werden lassen. Früher einmal hatte ich gedacht, ich wünschte mir eine Situation wie diese. Ich hatte sogar versucht, es wahr werden zu lassen. Und bis heute war ich mir sicher gewesen, es würde eine Befreiung sein.
August 1993
2
Unser Daddy lebte immer am Rand zweier Welten, zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, über die wir nie sprachen. Das machte ihm das Leben so schwer, und deshalb ist er am Ende auch so leicht gestorben. Ich glaube, wir haben das immer verstanden, aber an diesem Tag, seinem Todestag, war es das Letzte, woran wir dachten.
Es war einer jener Spätsommertage, die immer viel zu früh kommen und dir mit einem Schlag klarmachen, was deine Juni-Pläne wert waren (Lass uns Autofahren lernen! Lass uns Dreadlocks machen!), die meistens unvollendet blieben. Die Nacht zuvor war die Temperatur bis auf zehn Grad gefallen, und am Morgen war es kalt genug für Sweatshirts und Wollsocken. Sonne und Mond teilten sich den Himmel, zwei graue Kugeln hinter dunstigen Wolken. Es war der Sommer unseres sechzehnten Jahrs.
Hand in Hand gingen wir in unseren Flip-Flops die Water Street hinunter, an den protzigen Hotels mit ihren Mansardendächern und an den nichtprotzigen Läden weiter unten vorbei, deren Türen weit offen standen, um am Ende der Saison die letzten Kunden anzulocken. Es war ein bisschen seltsam, im Sommer die Gesichter der Leute nicht zu kennen, an denen wir vorbeigingen, lauter Versionen des gleichen Stereotyps mit Sonnenbrille und käsigen Beinen. Die Touristen gaben Eve und mir das Gefühl, besonderes Glück gehabt zu haben, wenn sie von
den blühenden Büschen und Meeresblicken schwärmten. Sie erinnerten uns daran, dass nicht jeder so lebte wie wir.
Wir rannten die Mole entlang, die nach altem Fisch stank, setzten uns, ließen die Beine ins Wasser baumeln, hörten zu, wie die Boote gegen die Vertäuung schlugen, und warteten, bis Daddy von seiner letzten Charterfahrt zurückkam. Die Sonntagnachmittage waren unsere Zeit. Um vier Uhr, wenn sich die Tagesausflügler abtrockneten und umzogen, um auf die Fünf-Uhr-Fähre zu steigen, faltete Daddy früh sein Schild zusammen und nahm uns auf eine Fahrt mit. So war es jeden Sommer, solange ich mich erinnern konnte.
Nachdem wir eine Minute dagesessen hatten, legte Eve ein Bein über meines und begann mit den Fingern durch mein Haar zu streichen. »In was für einer Stimmung bist du?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Was?«
»Wenn du nämlich in der falschen Stimmung bist, reagierst du übertrieben auf Dinge.«
»Ich bin in keiner Stimmung. Ich meine, du nervst mich ein bisschen, aber ansonsten geht’s mir gut.«
Sie schwieg einen Moment und sagte dann: »Na schön, ich glaube, heute ist Moms Geburtstag.«
Ich spürte einen quälenden Schmerz, als wären meine Lungen zu groß für meinen Brustkasten geworden. »Woher weißt du das?«
»Von seinem Kalender. Dort steht DG. Dianas Geburtstag muss das heißen.«
Ich beobachtete, wie eine Welle gegen einen mit Algen bewachsenen Bootsrumpf schwappte, und spürte dumpf, wie Eve mein Haar zurückzog und zu einem Zopf flocht. »Es könnte alles Mögliche sein. Das sagt doch gar nichts.« Eve blickte in
die Ferne auf eine abfahrende Fähre, auf der die Leute winkten, als würden sie sich auf eine Weltreise begeben. »Weißt du, dass ich mich nicht einmal an ihr Gesicht erinnern kann? Ich weiß aber noch, dass ihr Haar dunkel und wirklich lang war, bis über die Taille hinunter. Ich erinnere mich, dass sie groß war und mit ihrer Zigarette Rauchringe in die
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