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Auf ewig und einen Tag - Roman

Titel: Auf ewig und einen Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Joy Arnold Angelika Felenda
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Und wenn ich am Anfang, ohne zu wissen, warum, manchmal noch ein vages Gefühl des Verlusts spürte, so lernte ich bald, es zu ignorieren, vergaß die Sprache, die Eve und ich einst teilten,
und lebte in einem größeren und nur ganz geringfügig kälteren Raum.
    Wir brachten Justin Seilhüpfen bei und wie man Origami-Schwäne faltete, wie man gefallene Blätter in Zellophan presste, damit sie ihre Farbe nicht verloren. Er zeigte uns, wie man mit bloßen Zehen Venusmuscheln aus dem Sand grub, wie man schnell und sauber einen Regenwurm zerschnitt, sodass sich beide Hälften getrennt voneinander fortschlängeln konnten. Wir machten Sechs-Beine-Rennen, bei denen mein rechtes Schuhband an Justins linkes, und Eves linkes an sein rechtes geknüpft wurde, und prahlten vor seiner Mutter damit und fühlten uns, als könnten sich die Dinge niemals ändern.
    Aber die Zeiten, an die ich mich am intensivsten erinnere, sind die verregneten Nachmittage auf unserer überdachten Vorderveranda, wenn Justin seine Geschichten erzählte. Es ist mir ein Rätsel, wie ein Kind, das noch ganz am Anfang seines Lebens stand, eine solche Fülle von Bildern in sich haben konnte. Doch schon im Alter von neun Jahren zeigte sich, dass Justin eine Magie heraufbeschwören konnte, für die er später berühmt werden sollte. Er war schon in Canardia gewesen, einer Welt mit Schmetterlingen so groß wie Vögel, mit Ozeanen, die die Farben des Regenbogens reflektierten, und Wellen, die mit dem Klang eines Engelschors an den Strand spülten. Dort gab es Feen, Banditen und kindliche Heroen, gerade so alt wie wir, die in letzter Minute immer siegten.
    Diese magische Welt trat an die Stelle unserer alten Welt. Ich hielt Eves Hand, schloss die Augen, kämpfte gegen Bösewichter und flog mit den Feen. Immer wieder geriet ich in Todesgefahr, drängte mich eng an Eve und spürte ihre feuchtkalte Haut an meinem Arm. Ich lachte laut, wenn ich Angst hatte. Ich fühlte mich als Teil von etwas Größerem.

    Ich erinnere mich an einen Abend, als Eve und ich im Bett lagen, jede die Füße in die Pyjamahose der anderen gesteckt. Eve fuhr mit dem Finger die Nähte unseres Quilts entlang und sagte: »Eines Tages werde ich Justin Caine heiraten.«
    Ich wollte sie zurechtweisen, ihr sagen, wie es sich wirklich verhielt. Dass er mir gehörte, und dass sie mir gehörte, dass es mich zerbrechen würde, wenn sie ihn wegnähme. Aber mir fielen nicht die richtigen Worte dafür ein. Ich lächelte, zuckte die Achseln und zog die Füße aus ihrer Pyjamahose. Ich ließ sie glauben, wir könnten in dieser engen Welt der Zweisamkeit leben, die jetzt aus drei Leuten bestand. Obwohl wir damals beide schon irgendwie die Wahrheit kannten.
    Ich wurde nach Eves Tod gründlich befragt, vier Stunden Verhör durch einen Mann, dessen Augen viel zu freundlich waren, um eine Mörderin zu verhören. Die Polizei hatte ihr Blut untersucht, das Morphium gefunden und sich dann an mich gewandt. Sie hatten schon früher Fragen gestellt, in jenem grauenvollen Jahr, als wir siebzehn wurden. Und diese Verhörrunde wäre vielleicht anders ausgegangen, wenn der Mann die richtigen Fragen gestellt hätte, wenn er die geringste Ahnung gehabt hätte, was lange vor Eves Tod geschehen war. Aber seine Fragen hatten keine wirkliche Bedeutung, also antwortete ich ruhig und vernünftig, mit dem nötigen Maß an Entrüstung. Vielleicht heißt das, dass mein Gewissen endlich rein ist. Dass sich der umklammernde Griff der Vergangenheit gelockert hat.
    Das ist ein Teil dessen, was ich gelernt habe: dass es nicht falsch war, was wir wollten. Es waren die Ereignisse, die schlimm waren, aber wir waren Kinder. Wir waren dumm. Wir wussten nichts von der Macht unserer Entscheidungen. In diesen letzten Monaten ihres Lebens lernte ich so verdammt viel, ihr Sterben
lehrte mich so viel. So ist es, ein Zwilling zu sein. Man wird weiser, als man es je allein werden könnte, sogar weiser als zwei Leute zusammen. Wenn man das Leben von zwei Seiten ansieht, als zwei Seelen, erkennt man die wahre Bedeutung und das wahre Gewicht von allem, was einem widerfährt. Es ist die einzige Möglichkeit, die ich kenne, um die Welt durch Gottes Augen zu sehen.

EINS
    Die Anziehung des Ozeans

März 2007

1
    Verstohlen sah ich auf die Wanduhr über der Ballettstange. Während der vergangenen halben Stunde hatte mich Estella Baker im YMCA-Tanzstudio aufgehalten und mir die Ohren vollgequatscht, angefangen von Geschichten über ihren Großneffen bis hin

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