Auf Umwegen ins Herz
Bilder konnte ich Julian entdecken. Zwar waren viele von der Zeit im „Boot“ dabei, aber meistens war ich mit meinen Mädels oder den Betreuern darauf zu sehen. Geknickt lehnte ich mich am Wohnzimmerschrank an und schob das letzte Album von meinem Schoß.
Es konnte doch nicht sein, dass ich Julian damals komplett aus meinem Leben entfernt hatte? Okay, er war ein Arsch, ein Idiot, der es eigentlich nicht anders verdient hätte, aber ich wusste, dass ich das nie gekonnt hätte. Irgendwo musste doch noch ein Foto von ihm herumschwirren. Die Frage war nur, wo?
Ich lief in den Keller, um die Schachtel mit den Liebesbriefchen meiner Verehrer und Exfreunde zu holen. Vielleicht hatte ich dort ein Bild von ihm vergraben – obwohl er weder Exfreund noch Verehrer gewesen war.
Wieder in der Wohnung kippte ich den Inhalt der Box auf den Esstisch und begann, Fotos zwischen den Briefen herauszupicken. Jedoch ohne Erfolg. Hier hatte ich wohl wirklich nur gute Erinnerungen aufbewahren wollen. Wobei gut schon wieder fast übertrieben war.
Für keinen meiner Exfreunde hatte ich mehr als Sympathie empfunden. Wahrscheinlich aus Selbstschutz, um nicht eines Tages mit gebrochenem Herzen aufzuwachen. Sie waren cool, reifer als ich und … oberflächlich. Manchmal ignorant und selbstsüchtig. Klar hatten sie sich um mich auch bemüht, aber der Funken sprang nicht über. Sie gaben mir zwar das Gefühl, mich zu beschützen, doch bei keinem hatte ich Herzklopfen, wenn ich ihn sah. Oder wurde morgens mit einem Lächeln auf den Lippen munter, wenn ich von ihm geträumt hatte und wusste, dass ich ihn in nur wenigen Stunden wiedersehen würde. Oder … wenn ich bemerkte, dass er mir ständig Blicke zuwarf, obwohl er eigentlich mit seinen Freunden in eine hitzige Diskussion über ein Fußballspiel vertieft war – schweißnasse Hände bekam ich bei keinem davon. Wenn ich ehrlich war, hatte ich das alles nur bei einem gehabt, und der verwandelte sich in ein Arschloch … Wobei wir auch schon wieder beim Thema waren.
Verärgert über mein schlechtes Gedächtnis warf ich alle Briefe und Fotos wieder in die Schachtel zurück, die Fotos und Alben vom Boden landeten wieder im Wohnzimmerschrank, und als letzte Möglichkeit fiel mir nur mehr mein altes Kinderzimmer ein.
„Hallo, Jana, komm rein, ich bin gerade am Kuchenbacken.“
Ich gab meiner Mom einen Kuss auf die Wange, schloss die Wohnungstür hinter mir und folgte ihr dann in die Küche, in der sie sogleich wieder den Mixer durch die Rührschüssel jagte.
Auf den knapp siebzig Quadratmetern hatte sich seit meinem Auszug kaum etwas verändert. Die Küchenzeile war noch immer dieselbe mit den hängenden Türen bei den Oberschränken, der Esstisch war noch der, in den ich als Dreijährige mit der Schere eine tiefe Kerbe reingeritzt hatte. Auch das Wohnzimmer war noch fast unverändert, nur dass sich meine Mom damals, als ich mir eine neue Couch kaufte, ebenfalls überreden ließ, ihr geblümtes (und verschmutztes) Sofa endlich einmal durch ein neueres Modell zu ersetzen. Aber auch wenn die Wohnung voll alter Möbel war, so war sie sauber, ordentlich und richtig gemütlich. Und in gewisser Weise war ich froh, dass sich kaum etwas verändert hatte, denn so hatte ich einen Ort, an dem ich mich in meine Kindheit zurückversetzen konnte. Und das war ein richtig schönes Gefühl.
„Was wird denn das für ein Kuchen, wenn er fertig ist?“
„Kardinalschnitten. Deine Tante Maria kommt heute zum Mittagessen. Möchtest du nicht auch zum Essen bleiben? Ich mache Zander.“
Meine Mutter Anna war immer in Sorge, ich würde mich nicht ordentlich ernähren. Sie würde es wahrscheinlich nicht zugeben, aber seit ich vor knapp zehn Jahren von zu Hause auszog, erkundigte sie sich bei jedem Wiedersehen, was ich wann gegessen hatte. Ganz zu schweigen von den regelmäßigen Essenseinladungen.
Trotzdem – oder wahrscheinlich gerade deshalb – liebte ich meine Mama von ganzem Herzen. Wenn ich mir die Mütter meiner Freundinnen ansah, konnte ich mich mit meiner wirklich glücklich schätzen. Sie drängte mich noch nie mit der Frage, wieso ich gerade keinen Mann in meinem Leben hatte, oder wann denn endlich ihre einzige Tochter unter die Haube käme, geschweige denn, wann sie denn endlich Großmutter werden würde. Sie war wie eine gute Freundin für mich, die ich gerne um Rat fragte. Und auch wenn ich schon fast dreißig war, brauchte ich nach wie vor ihre Anwesenheit, ihre Stimme und ihren Trost.
Wir
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