Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
aus dem Lateinischen übersetzt worden waren, Sellmer nannte sie Lehnübersetzungen, etwa Barmherzigkeit, ein Wort, das findige Mönche aus miser i cordia geformt und damit nicht nur ein neues Wort, sondern auch ein dem Christentum verbundenes, neues Gefühl verkündet hatten. Für den erfolgreichsten Sammler war am Ende des Schuljahres ein Preis ausgesetzt. Seit den Sommerferien - ich brütete da noch über Stenokürzeln - war die Klasse schon mit dieser Sammlung beschäftigt.
    »Eine Art Ahnenpass«, hatte Sellmer unter die blasslila Matrizenbuchstaben gekritzelt, und: »Sie sind doch katholisch. Fangen Sie doch da einmal an.«
    Wörter hatten eine Geschichte! Nicht wie Sonne und Mond, eine Rose, ein Baum einen ewigen Sinn, eine unveränderliche
Gestalt. Sie waren nicht nur einfach da, um im geordneten Miteinander der Grammatik Geschichten zu erzählen, sie hatten, jedes für sich selbst, mehr zu sagen, als sie auf den ersten Blick, die erste Bekanntschaft preisgaben. Wörter hatten eine Vergangenheit, eine Herkunft. Sie kamen wie die Menschen von weit her. Wandelten sich wie die Steine vom Rhein, veränderten ihre Form und blieben sich doch treu. Pastor, pastoris, der die Schafe hütet. »Weide meine Schafe, weide meine Lämmer«, hatte Jesus zu Petrus gesagt. Petrus, der Fels. Kreuzkamp, der Schäfer. Pange, lingua! Singe, Zunge!

    Bertrams Begeisterung hielt sich zunächst in Grenzen. Er zog das Übersetzungsspiel vor, war voller Anerkennung für das große Wiener Schnitzel, das opus sculptile Viennae magnus. Dann aber packte es auch ihn. Unsere Suche wurde unermüdlich, fanatisch. So, wie wir als Kinder nach Buchsteinen gefahndet hatten, scheuchten wir nun die alten Lateiner aus ihren neuhochdeutschen Verstecken, schälten ihnen die germanischen Kleider vom antiken Leib. So, wie ich mit Wörtern und Buchstaben gespielt hatte, aus der Tante Tinte, dem Hund eine Hand, dem Leid ein Lied gemacht und den Pappa in Pippi ertränkt hatte, ging ich jetzt, ein wahrer Sherlock Holmes im Dienste der deutsch-lateinischen Beziehungen, bewaffnet mit dem Kleinen Stowasser , dem lateinisch-deutschen Schulwörterbuch, auf Enttarnung. An meiner Seite Bertram, ein rechter Watson, der sich insbesondere darauf verlegte, Familienmitglieder für unsere Forschungen zu begeistern.
    »Weiß de«, überfiel er eines Sonntagmorgens die Großmutter beim Kartoffelschälen, »dat du Latein spreschen kanns, Lating, wie dä Pastur?« Bertram machte es seit langem wie ich: reines Hochdeutsch nur außer Haus.

    Die Großmutter griff nach einer Kartoffel. »Isch? Nä«, sagte sie. »Wie küs de dann do drop? Dat is doch nix für usserens. Dat is die Sprache Jottes.«
    »Rischtisch«, sagte Bertram. »Aber mir sind doch alle Jottes Kinder. Da könne mir doch auch seine Sprache spreschen. Sonst verstehe mir den ja nit.«
    Die Großmutter ließ Kartoffel und Messer sinken. In einer langen, hauchdünnen Spirale hing die Schale von der Knolle herab. Sie sah den Bruder liebevoll an. Bertram, seit fast zehn Jahren Messdiener, besaß, anders als ich, der Düwelsbrode, ihr Vertrauen. Gut, dass sie nicht wusste, wie es um mich und den lieben Gott stand. Mit drei Kerzen in der Kirche und einem Gebet vor allen Worten, inbrünstig wie in Kindertagen, als ich noch an Wunder glaubte, hatte ich Ihm draußen bei der Großvaterweide für meine Erlösung aus dem Lehrlingsdasein gedankt. Danach ließ ich es wieder beim Besuch der Sonntagsmesse bewenden, und Er schien damit zufrieden.
    »Nur en bissjen anders is dat«, fuhr Bertram fort, »so wie wenn de Platt un Hochdeutsch sprischst. Da hören sisch de Wörter ja auch en bissjen anders an. So wie Boom un Baum oder Bruut un Brot, so sacht der Pastor angelus, und du sachst Engel. Altare ist der Altar, Kloster kommt von claustrum, Monstranz von monstrare. Und da jibet noch viel mehr Wörter wie die.«
    Die Großmutter nickte. »Un Amen?«, fragte sie. »Sacht der liebe Jott auch Amen? Un Halleluja? Un Hosianna? Un Christ? Un Kirche?«
    »Nä, Oma«, sagte ich. »Dat kommt aus dem Hebräischen, sozusagen von Gottvater. Und Christ und Kirche, die kommen aus dem Griechischen. Aber Pastor zum Beispiel, das heißt Schäfer, wie der gute Hirte. Und Petrus. Der Fels, auf dem die Kirche gebaut ist.«
    Das war zu viel. Die Großmutter nahm die Kartoffel wieder auf. Setzte das Messer exakt da an, wo sich die Spirale aus der Schale wand, hielt dann aber noch einmal inne und blinzelte
listig. »Pengste 15 «, sagte sie. »Jesus

Weitere Kostenlose Bücher