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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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im fahlen Gesicht, später erfuhr ich, sein halber Magen sei wegen Geschwüren herausgeschnitten.
    »Salve!«, sagte er und hielt mir einladend die Tür auf.

    »Salve!« Verwirrt sah ich den Lehrer an.
    »Nomen mihi est Sellmer. Quid est tibi nomen?« 3
    »Vocor Hilla Palm.« 4
    Ich fühlte, wie ich wieder zu Atem kam. Heiß nur noch von den bullernden Heizkörpern.
    »Hic quid vis?«, 5 ging das Verhör auf Latein weiter.
    Ich antwortete, ohne zu zögern. Die Stunden mit dem Bruder und seinen Lateinbüchern am Küchentisch, die Nachmittage im Holzstall mit Stowasser und Nota , die langen Abende in der Küche über Atrium Linguae Latinae mit Fabeln, Sagen, bunten Geschichten aus der Alten Welt, bis im Herd das Feuer ausging, machten sich bezahlt.
    »Tiro in chartaria laboravi, Emeritus.« 6 Das hatte ich mir zu Hause zurechtgelegt. »Discam et scholae et vitae«, * 6 antwortete ich, sicher und vergnügt, als hätte ich nie etwas anderes gesprochen als die Sprache Gottes, die Sprache der römischen Dichter und Krieger, die nun die meine werden würde. Klare Fragen, klare Antworten. Subjekt, Objekt, Prädikat. Ich war am Ziel. Das Wilhelm-von-Humboldt-Aufbaugymnasium war eine Baracke; ein Behelfsgebäude. Etwas Vorübergehendes. Was ich hier lernen würde, hatte Bestand. Hatte Bestand gehabt und würde Bestand haben. Plusquamperfekt und Futurum I. Ein Konjunktiv, den ich verwandeln würde in einen Indikativ. Und niemals Futurum II: Es wird Bestand gehabt haben.
    »Vos instruam!«, rief Sellmer. »Audite! Vorstellung, bitte!«
    »Monika Floraevallis, Monika Blumenthal«, sagte das dunkelhaarige Mädchen neben mir; erklärte, dass sie »in silvae domo«, in Waldheim, wohne, und lächelte mich an. Ihr folgten
Anke Sutor und Astrid Faber, klar, Schuhmacher und Handwerker. Anke hieß wirklich so. Astrid hieß Kowalski. Ihr Vater war Werkzeugmacher. Auch der männliche Teil der Klasse wartete mit den merkwürdigsten Familiennamen und Ortschaften auf. Zwar begriff ich, dass es sich um verwegene Übersetzungen handelte, behalten konnte ich fast nichts, außer den Vornamen der Mädchen und den Namen eines großen Blonden, um etliches älter als wir. Nikolaus Opulentus, vulgo Clas Reich, reich an Gütern, Geld und Einfluss - das schien auf ihn zu passen.
    Wir waren vierzehn mit mir, der Neuen. Aus weitem Umkreis kamen wir hier zusammen. Angefangen, erfuhr ich später, hatten zweiunddreißig. Zehn Jungen und vier Mädchen saßen wir in Hufeisenform an sieben Zweiertischen.
    »Hilla, das meint doch wohl Hildegard?«
    Ich nickte.
    »Hildegardis also. Und nun zu Palm. Die Palme. In der Antike das Zeichen des Sieges. Im Christentum Symbol für das Leben. Steckt allerhand drin in so einem Dattelkern. Palmes, palmatus, palmetum, palmifer, palmosus, palmula, palmaris«, spulte Sellmer herunter.
    »Palmes - der Schössling, der Zweig«, schrieb der Lehrer an die Tafel, »palmatus - mit Palmenzweigen bestickt; palmetum - der Palmenhain; palmosus - palmenreich; palmifer - palmentragend; palmula - 1. das Ruder, 2. die Dattel; palmaris - vorzüglich.«
    Der Lehrer setzte die Kreide ab. »Nun, Fräulein Palm?«
    »Palmaris!«
    »Vorzüglich!«, bestätigte der Lehrer. »Fräulein Hildegard Vorzüglich. Discipula Hildegardis Palmaris. Nomen est omen. Wollen wir hoffen. Sind Sie zufrieden mit diesem Namen?«
    Ich nickte. Warum nicht?
    »Sie dürfen sich nämlich auch einen Namen erfinden. Das dürfen alle hier. Wie die freigelassenen Sklaven in Rom. Die übernahmen den Namen ihres Herrn. Aber wir leben ja in einer
Demokratie. Also wählen Sie. Oder warten Sie«, Sellmer fasste mich ins Auge, »Ursula zum Beispiel. Was meinen Sie? Oder Stella? Rosa?«
    Ursula? Die kleine Bärin. Kam nicht infrage. Auch so ein Name, den die Verwandtschaft, genau wie Hildegard, nicht richtig hätte aussprechen können und in ein Orsela verwandelt hätte. Bestimmt hätte ich mich als Ursula in Ulla umgetauft.
    »Petra«, entschied ich. »Petra Leonis.«
    Sellmer zog die Brauen zu zwei spitzen Dreiecken hoch. »Stein des Löwen. Zwei wahrhaft königliche Symbole. Der Stein: In der griechischen Sage warfen Deukalion und Pyrrha Steine hinter sich, aus denen ein neues Menschengeschlecht wuchs. Im Christentum Symbol der Standhaftigkeit und Unerschütterlichkeit, siehe Petrus, der Felsenapostel. Nur zwei von vielen Bedeutungen. Und der Löwe? Er steht, kurz gesagt, für das Verschlingende wie für das Siegende. Für Tod und Auferstehung.«
    Sellmer zog den Kopf auf die

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