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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Brust und dehnte die Schultern nach hinten. Auf seinem fahlen Gesicht bildeten sich rote Flecken der Begeisterung. Anders als bei den lateinischen Vorträgen, deren hypnotische Wirkung von ihrer Monotonie herrührte, riss uns, wenn es auf Deutsch um Leben und Literatur seines geliebten Römervolkes ging, seine Begeisterung mit. »Übrigens: Auch in Rom konnte man seinen Namen frei wählen. Aber nur als Mann. Und nur als Mann von Stand. Gaius Iulius Caesar nannte man meist Caesar; aber Augustus’ Stiefsohn und Nachfolger Tiberius Claudius Nero war als Tiberius bekannt. Doch nun genug davon.« Sellmer stellte die Beine zusammen, schob die Daumen in die Armlöcher seiner Weste, was seiner schlaksigen Gestalt nolens volens eine Straffheit verlieh, die er seiner verehrten, von allem Firlefanz gereinigten Sprache schuldig zu sein glaubte.
    »Saluto vos initio anni novi. Novus annus nobis praebeat: PACEM.« Sellmer ergriff die Kreide und schrieb den Satz an die Tafel. »Discipula Floraevallis!«

    »Ich grüße euch am Beginn des neuen Jahres«, übersetzte meine Nachbarin schleppend. »Das neue Jahr bringt uns Frieden.«
    »Nun, das wollen wir hoffen, discipula Floraevallis. Zunächst aber habe ich es etwas bescheidener beim Konjunktiv belassen, der Wunschform: bringe uns Frieden, das neue Jahr. Ja, es bringe uns Frieden. Und was wird von Ihnen noch weiter gewünscht?«
    »Ut feriae longae sint!« 7 , strahlte Tim Wottrich, offenbar der Spaßvogel der Klasse.
    »Ut valeamus!« 8
    »Portae multae per FC Colonia!« 9 Tim stupste seinen Nachbarn in die Rippen.
    »Na, die Tore möchte ich nicht schießen«, lächelte Sellmer. »Ut FC Köln manus pedifollica saepissime follem in portam inferat!« 10
    »Da ist der Ball ja im Gegentor«, feixte Clas. »So lange, wie der braucht.«
    Sellmer tat, als habe er nichts gehört. »Und was wünschen Sie sich, discipula Leonis? Müsste übrigens korrekt Leaena heißen, die weibliche Form.«
    Ja, was wünschte ich mir für das neue Jahr? Gute Noten. Wie übersetzen? »Omnem honorem, äh, ornamentum …« Mir wurde heiß. »Multos libros bonos!«, schob ich hinterher.
    »Ehre und Auszeichnung«, Sellmer deutete ein Lächeln an, »und viele gute Bücher, na dann. Omnia bene eveniant. Viel Erfolg!«
    Es kam noch einiges an Wünschen, äh, optationes, zusammen: eine Reise nach Rom, Gottes Segen für das Zweite Vatikanische Konzil, das wünschte sich Alois, genannt Pius, der Fromme, uno
opus sculptile Viennae magnus, das war wieder Clas, der, ungefragt, dennoch für die phantasievolle Übersetzung eines Wiener Schnitzels gelobt wurde, worauf wir dann alle in Wortschöpfungen wetteiferten.
    Schließlich brach Sellmer ab. »Na also«, das Lächeln hatte sich von den Mundwinkeln bis in seine Augen ausgebreitet. »Da sage nun noch einer, Latein sei eine tote Sprache. Na, das glaubt ja nun ohnehin von Ihnen keiner mehr. Und Sie, discipula Leonis, bleiben nach der Stunde noch kurz bei mir.«
    Sellmer griff in seine Aktentasche und stellte einen grünlichen Kopf auf den Tisch. »So, da ist er wieder. Es wird ernst. Erkennen Sie ihn?«, wandte sich Sellmer an mich.
    Na klar, da wir De bello Gallico , den Gallischen Krieg , lasen, das hatte man mir gleich nach der Aufnahmeprüfung mitgeteilt, musste dieser Kopf dessen Verfasser gehören. »Heute«, Sellmer rieb sich die Hände, »wollen wir einmal sehen, was uns Caesar im siebenundzwanzigsten Kapitel seines sechsten Buches zu sagen hat. Herr Fromm, discipule Pius, bitte lesen Sie.«
    Pius begann: »Sunt item, quae appellantur alces.« Ich erkannte die Stelle auf Anhieb. Bertram hatte mich vor dieser Geschichte gewarnt. Meist nehmen die Lehrer sie an Karneval, hatte er hinzugefügt, gern aber auch am Anfang eines Jahres oder Schuljahres. Gute Stimmung und so.
    Während Pius las, schrieb Sellmer die neuen Vokabeln lateinisch und deutsch an die Tafel: »Alces - Elche; capra - Ziege …«
    »Discipula Sutor, ea transfer!«
    »Auch gibt es solche, die Elche genannt werden«, begann Anke. »Sie sind ähnlich der Figur der Ziegen und haben verschiedene Häute.«
    »Consiste! Stopp!«, rief Sellmer. »Verschiedene Häute … Wie heißt das genauer?«
    »Scheckige Felle!«, sagte ich, war doch klar. »Varius«, fügte ich hinzu, »bunt, scheckig.«
    »Dann machen Sie doch gleich weiter, discipula Leonis!«

    Fließend und frei - strenge lateinische Grammatik durch rheinische Lust am Fabulieren zu besiegen, sollte mein Markenzeichen werden - brachte ich meinen

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