Aufbruch - Roman
siebenmal. Die Striemen längst verheilt. Die Schmerzen vergangen. Das Herz tat mir weh. Noch immer.
Ich blieb stehen, sah mich um. Hockte mich in den Eingang einer Parfümerie und band mir den Schuh auf. Zog den Geldschein hervor. Ging zurück und lehnte mich an die Kirchenmauer, ließ die Melodien über mich und an mir herab-, in mich hineinströmen - Siehe, ich mache alles neu -, bis die Töne in einen mutwillig raschen Rhythmus fielen, Heidewitzka, Herr Kapitän , die mich aus meiner Verzauberung schreckten. Ich steckte den Schein zu den Münzen im schwarzen Zylinder und drückte mich wieder an die Steine, sah, wie schlanke braune Finger in den Hut nach dem Schein griffen, ihn auseinanderfalteten, sah das schnelle, spähende Drehen und Wenden des schönen Kopfes, sah die Lippen im Bart sich zu einem blitzweißen Lächeln öffnen, und dann nahm der Schöne noch einmal die Geige unters Kinn und präludierte, jubilierte Halleluja, Halleluja wie sonn- und feiertags Honigmüller auf der Orgel.
»Jitz määt he Schluss«, bemerkte ein Bass aus dem Kreisrund der Zuhörer. »Erst Heidewitzka un dann, wenn rischtisch wat drin is, ne Schein oder so, kommt noch et Halleluja .«
Immer noch lächelnd, stülpte der Geiger den Zylinder auf und machte sich fiedelnd auf den Weg Richtung Dom.
»Ah, da sind Sie ja wieder«, Fräulein Oppermanns Alt klang so mütterlich, wie es ihr eben möglich war. »Einen guten Abend und eine gesegnete Nacht im neuen Heim.«
Ich spürte ihren missbilligenden Blick auf meinem schlotternden Hosenboden, bis sich die Glastür der Empfangshalle hinter mir schloss.
Der Gang lag still und schwach erleuchtet. Ich kannte die Hausordnung. Auf den Gängen leise sprechen, keine Musik nach zweiundzwanzig Uhr. Kochen, auch Wasser, nur in der Küche. Nicht einmal Kaffee oder Tee hatte ich mir zu Hause jemals selbst zubereiten dürfen. Ich musterte die Türen. Die Halter für die Namen waren noch leer. Ich schloss meine Tür auf und hinter mir zu. Klickte den Lichtschalter. Herzklopfen bis in die Haarwurzeln. Mein Zimmer. Ein Zimmer für mich allein. Nie, außer
an den wenigen Tagen, wenn der Bruder eine Reise machte, war ich nachts allein gewesen. Ein Zimmer für mich allein. Ich konnte es gar nicht oft genug wiederholen. Hier, in diesem Haus mit sechzigmal Jesus über den Türen, fühlte ich mich sicher. Frei. Die Mutter und der Vater hatten nur schwer vermocht, mir ihre Liebe zu zeigen. Doch eines war so gewachsen: mein Talent für Einsamkeit. Mit diesen anstrengenden Abstechern nach außen und dem wohligen Zurückgleiten zu mir allein. Auch wenn ich da auf eine Kapsel stieß.
Im Spiegel über dem Waschbecken sah ich mir ins Gesicht. Rundes Kinn, rote Wangen, braune Augen, dunkles Haar, stud. phil. Hildegard Palm, ohne Wenn und Aber. Außenansicht. Stirnseite. Ermutigend nickte ich mir zu. Ich hievte den Koffer aufs Bett, ließ die Schlösser aufschnappen, klappte den Deckel hoch - da lag er zuoberst, der Wandbehang mit dem weißen Hirsch. Die Mutter musste ihn im letzten Augenblick über die Schottendecke gelegt haben. Weil sie ihn loswerden wollte? Um mir eine Freude zu machen? In diesem winzigen Zimmer gab es nur einen Platz, an der Längsseite des schmalen Betts, wo er hinpasste und dort die ganze Wand einnehmen würde. Nägel einschlagen verboten. Ich rollte die Stoffbahn eng zusammen und verstaute sie auf dem Boden des Kleiderschranks.
Stück für Stück räumte ich ein, was Vergangenheit mit Zukunft verband oder eigens für die Zukunft angeschafft worden war. Zwei Baumwollgarnituren. Ein zweites Paar frischbesohlter Halbschuhe. Die Cowboystiefel. Meine Hosen, Blusen und Pullover. Die drei Büstenhalter. Ich nahm von dem schmalen Schrank, der nach Leim und Spanplatte roch, Besitz mit den Gesten einer Königin, auch wenn sich meine Habseligkeiten in den Fächern ausnahmen wie Strandgut.
Auf die Regale daneben verteilte ich die wenigen Bücher aus dem Holzstall. Versteckte dahinter die Steine. So viel Platz für Neues.
In der Tasche, die mir die Mutter mitgegeben hatte, fand ich ein Stück vom Platz der Großmutter mit extra viel Rosinen.
Ein Stück vom Marmorkuchen der Mutter mit extra viel Schokoladenguss. Dazu ein Kalenderblatt: »Kindern, die eine gute fromme Mutter haben, bleibt der Weg zum Himmel stets offen. Wenn’s auch bisweilen einmal trüb wird unter diesem Himmel, desto freudiger blicken wir wieder zu den Sternen auf, wenn’s oben hell wird. Adolf Kolping.« Am 21. März,
Weitere Kostenlose Bücher