Aufbruch - Roman
alles hinweggleitende Augen. Hinsehen und Hineinsehen: Buchstaben und Geschichten in belesene Steine, böse Gesichter in bösen Stein, Wünsche und Wollen in magische Kiesel. Die Lieder des Schilfs in der Wiege der Luft. Das Läuten von Glocken, Tau und Insekten. Das Unscheinbare zum Scheinen bringen, das Stumpfe zum Leuchten: Das lehrte mich in Dondorf der Rhein.
Und nicht nur das. Gerade weil nichts da war, was festhielt, überwältigte, regte der Rhein auch zum Träumen an, zum Sehnen, Wegsehnen mit dem Strom, ins Weite, ins Ferne. Weg von denen, die es nicht wagten, sich wegzuträumen, wegzudenken, wegzugehen. Diese Landschaft ließ mir Raum; wann immer mir die Dondorfer Wirklichkeit nicht genügte, konnten die Blicke schweifen, die Augen wandern mit den Pappelsamen, nichts, was Augen und Gedanken begrenzte, als der Himmel über mir, gestirnt in der Nacht, waschblau im Sommer wie der Mantel der Madonna.
Hinsehen, hineinsehen, weitersehen, sich seine Überraschungen selbst zu bereiten: Das lehrten mich meine Jahre in Dondorf am Rhein.
»Da ist der Rhein zu Hause aber schöner! He, wo bist du mit deinen Gedanken?« Bertram stupste mich unsanft in die Rippen.
Ich schnupperte. Dieser Rhein roch nach Teer, Maschinenöl, Rost, nach Asphalt und nassem Mauerwerk. Roch nach denen, die ihn gezähmt hatten. Der rollende Donner eines Güterzugs auf der Hohenzollernbrücke erstickte das Tuckern der Schleppkähne, das Tuten der Ausflugsdampfer; steinerne Ufer, Kais und Brückenrampen wiesen den Strom in die Schranken. Auf der anderen Seite die roten Klinker der Deutzer Messe. Wiesen, Weiden, ein paar Pappeln sahen abgenutzt aus. Dieser Rhein musste sich einiges gefallen lassen.
Mein Dondorfer Rhein hatte nichts zu verlieren. Seine Ufer unangetastet wie vor Jahrhunderten. Wer kein Gesicht zu verlieren
hat, kann es leicht bewahren. Doch wo immer der Rhein auf die Zivilisation stieß, war es ein Zusammenstoß, den er verlieren musste. Er musste klein beigeben.
»Tja«, erwiderte ich, »die Konkurrenz hier ist gewaltig. Bei uns ist der Rhein sozusagen König. Alleinherrscher. Er triumphiert über Dondorf und weit über Dondorf hinaus. Bei uns lässt man den Rhein in Ruhe. Hier rückt die ganze Stadt dem Rhein auf die Pelle, aber …«
»Hier?«, schnitt mir Bertram das Wort ab. »Der arme Vater Rhein sieht ja aus, als steckte er in zu kleinen Schuhen.«
»Naja, aber doch schön verziert, die Schuhe«, nahm ich Bertrams Bild auf. »Gotisch-elegant: der Dom. Romanisch-standfest: die Kirche da hinten. Und die Altstadt ist doch auch schön bunt«, suchte ich ihn zu beruhigen. Doch ich musste ihm recht geben. Der Kölner Rhein war berühmt. Aber um einen hohen Preis. Er war Knecht. Er diente. War vor allem Straße. Eine Straße neben anderen. Und Sehenswürdigkeit. Eine neben anderen. Die ganze Stadt machte dem Strom den Rang streitig. Dieser Rhein war nicht der meine. Jedenfalls noch nicht.
»Hier muss de deine Boochsteen selber mitbringen«, sagte Bertram.
»Und die Wutsteine auch«, fügte ich schnell hinzu. »Und die Lachsteine.«
»Da«, der Bruder nestelte etwas aus seiner Hosentasche. »Ein Willstein. Echt Dondorf. Mit Garantie.«
Warm und glatt lag der Stein in meiner Hand.
»Nun kuck ihn dir doch auch an!«
Es war ein Kiesel, oval, weiß, von tausend schwarzen und roten Fäden durchzogen. Darauf mit Goldbronze, ganz so, wie auf dem Stein des Großvaters mein Name: Hildegard Palm. Mit einem »Prof.« davor.
»Laborabo«, versprach ich und ließ das steinerne Orakel in den verbeulten Tiefen meiner Hose verschwinden.
»Laborabimus«, grinste Bertram. »Et orabo. Arbeiten und beten.«
»Amen.« Ich deutete auf die Türme des Doms. »Da kanns de mehr Buch-, Wut-, Lach- und Willsteine sehen, als ich jemals lesen, versenken und erfüllen kann.«
»Stimmt«, bekräftigte Bertram. »Und wenn man dann noch bedenkt, wie lange die Kölner daran gebaut haben!«
»Aber sie haben nie aufgegeben«, sagte ich, »jahrhundertelang Ruine, aber immer im Auge behalten. Und jetzt: fertig!«
»Jedenfalls beinahe«, Bertram zeigte auf das Gerüst über dem Südportal. »Irgendetwas gibt er den Kölnern immer zu tun. Und überhaupt: ein für allemal richtig fertig? Wär doch langweilig. Wenn de alles has, wat de wills, bis de tot.«
»Na, hör mal«, ich gab ihm einen Rippenstoß, »in dir steckt ja nicht nur ein Historiker, sondern auch noch ein Philosoph! Philosoph! Wär das nicht auch etwas zum Wünschen?«
»Nä«, sagte
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