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Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern

Titel: Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kösel
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Einführung
    Marvin, ein neunjähriger Junge, malt am liebsten Vögel in der Therapie. Adler, Raben, Bussarde, Schwäne. Marvin ist ein Vogelexperte. »Am liebsten wäre ich ein Adler, die fliegen ganz weit oben, keiner kann sie erreichen... Sie fliegen allen anderen davon.«
    Seine Realität sieht anders aus - und seine gemalten Vögel auch. Sie haben gebrochene Flügel, alle. Zuerst habe ich die gebrochenen Flügel meinem Unvermögen zugeschrieben, Marvins Bilder richtig wahrnehmen zu können. Wir Erwachsenen wollen ja oft in der gemalten Welt unserer Kinder unsere eigene Erwachsenenrealität wiederfinden. Und ein Adler sieht nicht aus wie ein Schwan. Bei Marvin sieht der Adler aus wie ein Schwan, doch Marvin unterscheidet mit wissender Stimme: »Das ist ein Adler, das ist ein Schwan... das merkt man doch.« Ich hab es nicht gemerkt, doch vorsichtig geworden bei meinem Wunsch, die Dinge klar einzuordnen und zu benennen, halte ich mich bei Marvins Flügeln zurück. Auffällig ist nur, dass alle Flügel, ob Adler- oder Schwanflügel, in der Mitte abknicken. »Das sind ganz besondere Flügel...«, taste ich mich vorsichtig an seine Vogelbilder heran. Manchmal malt Marvin gleich mehrere Bilder in der Therapiestunde. »Ja, die kommen gerade von einem Kampf... sie waren aber stärker... sie fliegen jetzt davon.«
    Wie kann man mit gebrochenen Flügeln fliegen? Es war nur ein Gedanke, ich hab ihn nicht ausgesprochen.
    Ein halbes Jahr später sagt Marvin, und Tränen laufen über sein blasses, schönes Gesicht: »Der Papa hat gesagt, wenn du es nicht ins Gymnasium schaffst, kannst du es
gleich vergessen...« Am Ende dieser Stunde malt er sein für lange Zeit letztes Vogelbild, einen roten Adler: »Hast du gemerkt, dass der kaputte Flügel hat?« Ich nicke: »Ja, er ist wunderschön, aber seine Flügel sind kaputt... ein trauriger Vogel.«
    Marvin ist ein ganz normales Kind. Sensibel und begabt wie viele andere Kinder auch. Was ihn von anderen Kindern unterscheidet, sind seine Diagnosen. Er ist neun Jahre alt und hat schon drei Diagnosen, die wie Blei auf seinem noch jungen, erst begonnenen Lebensweg liegen. Die letzte ist erst kürzlich vor ihm aufgebaut worden. Seine Mutter sagte am Telefon: »Können Sie uns helfen? Wir haben einen Zappelphilipp zu Hause, die Ärzte wissen jetzt, was los ist mit ihm...«
    Nach unserer ersten Begegnung habe ich als Erstes die Diagnosen beiseitegelegt. Marvin ist kein krankes Kind. Marvin ist ein unverstandenes Kind. Ein vitaler, entzückender Junge steht vor mir, mit einem für sein Alter sehr wachen Verstand und überdurchschnittlichen Ausdrucksvermögen. Ich beglückwünsche die Eltern zu ihrem begabten Kind. Die Reaktion der Eltern ist - Überraschung. »Wir hören immer nur Negatives über ihn... und Sie gratulieren uns zu diesem Kind!« Und Marvins Vater, ein in der rauen Welt der Wirtschaft geschulter Kämpfer, meint mit leicht sarkastischem Unterton: »Bis jetzt gab’s Diagnosen... jetzt plötzlich Glückwünsche... ist das eine neue Tour?«
    Nein, das ist keine »neue Tour«. Es ist nach vielen Jahren Erfahrung als analytische Kinder- und Jugendlichentherapeutin der Versuch, die Augen der Eltern mit Hoffnung zu füllen und nicht mit weiterer Angstmacherei eine Eltern-Kind-Beziehung zu verstopfen. Dort, wo vorher Angst, Sorge und das lähmende Gefühl, als Eltern zu versagen, geherrscht haben, möchte ich bei den Eltern wieder Freude und Neugierde am Kind wecken.

    Ein viel zu häufiger Mitbewohner in vielen Familien ist die Angst. Sie nistet sich ganz unauffällig im Laufe der Jahre ein und kann irgendwann ein Dreh- und Angelpunkt im Familienleben werden. Selten zeigt sie ihr Gesicht. Wen man klar erkennen kann, gegen den kann man kämpfen. Doch die Angst ist eine Meisterin der Maskierung. Sie bleibt diffus, entzieht sich jedem Zugriff, hüllt sich schnell wieder in ein anderes Kostüm, wenn ihr Entblößung droht.
    Anfangs ist die Angst im jungen Paarglück nur ein graues, mickriges Pflänzchen: Was, wenn wir keine Kinder bekommen? Doch das Kind kommt. Unkraut vergeht. Dieses Pflänzchen ist also schnell wieder ausgerissen und stirbt ab. Doch das nächste lauert bereits: Was, wenn ich keine gute Mutter bin, was, wenn ich kleine, schreiende Kinder nur als nervig empfinde, endlich wieder einmal durchschlafen möchte? Was, so der Mann, wenn ich meine Frau wieder einmal ganz für mich haben möchte, sie ist ja nur noch Mutter... Wieder ein paar Jahre später, die erste soziale

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