Aufgedirndlt
dem er seinen Vorsatz in die Tat umsetzen wollte, kam ihnen eine Joggerin entgegen, einen kläffenden Terrier im Schlepptau.
Annes folgendes Verhalten zerstörte die intime Situation. Abrupt durchbrach sie das harmonische Schweigen und rief der Sportlerin ein lautes und angesichts der gerade noch so entspannten Situation viel zu herrisches »Halt!« entgegen.
Die Joggerin blieb stehen, schließlich hatte sie es mit zwei Polizisten in Uniform zu tun. Während Anne die Fotos der verdächtigen Münchner hervorzog und der Läuferin hinhielt, bellte der Hund Kastner an. Verwirrt betrachtete die Joggerin, die nach Weichspüler roch und auf deren geröteten Wangen sich wegen der Anstrengung kleine Schweißperlen gebildet hatten, die Bilder, und Anne fragte sie, ob sie die beiden Männer schon einmal gesehen habe.
Welcher Teufel Anne in diesen Augenblicken geritten hatte, konnte Kastner sich auch in den Folgetagen, in denen er sich diese Situation immer wieder ins Gedächtnis rief, nicht erklären. Er war sich nicht sicher, ob es die Joggerin war, die ihm die einmalige Möglichkeit verdorben hatte, Anne näherzukommen, oder ob sein Plan auch ohne ihr Erscheinen nicht aufgegangen wäre. Hatte Anne seine Absicht, ihre Hand zu ergreifen, gespürt und die Sportlerin nur angesprochen, um seinem Annäherungsversuch zu entgehen? Oder hätte sie ihn sogar gewähren lassen, hätte seine Hand genommen, ihn vielleicht sogar geküsst, aber stattdessen war ihr der eigene Ermittlerinneninstinkt in die Quere gekommen?
Tatsache war – ja, es klingt unglaublich –, dass die Joggerin die Männer auf dem Foto erkannte. Sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass sie sie auf dem diesjährigen Seefest gesehen hatte. Einer von beiden – nicht derjenige, der so südländisch aussah, sondern der andere – hatte sie sogar angesprochen und versucht, sie auf seinen Schoß zu ziehen.
Das Wochenende, das es dauerte, bis Anne endlich die richterliche Genehmigung für einen zwangsweisen Speicheltest vorlag, empfand die ambitionierte Ermittlerin als reine Qual.
Aber dann war endlich der Montag da, an dem sie sich vormittags mit Kastner ins Auto setzte, um gemeinsam mit den Kollegen von der Kripo die beiden Verdächtigen aufzusuchen. Den Pizzabäcker Silvio Massone passten die Polizisten an seinem Arbeitsplatz ab. Widerstandslos ließ er sich abführen. Doch am Wohnsitz des zweiten Verdächtigen, Tom Garner, trafen sie nur dessen Mutter an, die behauptete, nicht zu wissen, wo ihr Sohn sei.
Während die Kripokollegen mit dem Pizzabäcker ins Polizeipräsidium zurückfuhren, um ihn in die Mangel zu nehmen, blieb Anne gemeinsam mit Kastner bei der Mutter und stellte sie zur Rede.
»Frau Garner, Ihr Sohn steht im Verdacht, zwei furchtbare Verbrechen begangen zu haben. Es geht um die Vergewaltigung zweier junger Frauen. Frau Garner, Sie waren doch selbst einmal ein junges Mädchen …«
»Mein Sohn war das nicht«, blockte die Frau ab, die verbraucht und alt aussah. »Mein Tom hat zwar früher schon manchmal Mist gebaut, aber so was würde er nie tun.«
»Wo könnte er denn jetzt sein?«
Frau Garner zuckte mit den Schultern. »Seit er studiert, ist er nicht mehr viel daheim.«
Ihre nächste Frage stellte Anne nicht sofort, stattdessen ließ sie sich einige Sekunden Zeit, um die Mutter des Verdächtigen genau zu beobachten. Irgendetwas stimmte nicht an ihrem Verhalten. Frau Garner wich Annes Blick aus und stand auf.
»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte sie und wandte ihren Blick dem Fenster zu.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Gestern, nein vorgestern …« Die Frau stockte. »Ach, ich weiß es nicht mehr genau, Sie bringen unser ganzes Leben …« Frau Garner konnte ihren Satz nicht vollenden, ein lautes Rumpeln von oben hielt sie davon ab.
Noch einmal suchte Anne den Blick von Frau Garner, dann fragte sie hastig: »Was war das?«
»Ich weiß nicht.« Die graue Gesichtsfarbe der Frau wechselte in ein violettes Rot. Sie stand jetzt am Fenster und zupfte nervös an dem gehäkelten staubigen Vorhang.
»Wohnt da noch jemand über Ihrer Wohnung?«, erkundigte sich Kastner, der sich bislang zurückgehalten hatte. Bei dem Haus handelte es sich um ein zweistöckiges Gebäude im Münchner Osten, ein typisches Vorstadthaus, nach dem Krieg erbaut, kleines Grundstück, einfache Nachbarn.
»Ja … also nein …«, stammelte die Frau und fuhr sich nervös durch das schulterlange graue Haar. »Also schon …«
»Also was?«,
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