Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
schließlich aus dem Geifer, der auf sie von all den unmittelbaren Tatmenschen niederregnet, die sie als Richter und Diktatoren in feierlichem Kreise umgeben und aus vollem Halse über sie lachen. Selbstverständlich bleibt ihr nichts anderes zu tun übrig, als mit ihrem Pfötchen eine geringschätzige Gebärde zu machen und mit einem Lächeln vorgetäuschter Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt, schmählich in ihr Mauseloch zurückzuschlüpfen. Dort, in ihrem scheußlichen stinkenden Kellerloch, versinkt unsere beleidigte, geprügelte und verhöhnte Maus unverzüglich in kalte, giftige und vor allen Dingen ewig andauernde Bosheit. Volle vierzig Jahre wird sie sich bis in die letzten, schmählichsten Einzelheiten der Kränkung erinnern und dabei jedesmal von sich aus noch schimpflichere Details hinzufügen, sich mit ihrer eigenen Phantasie boshaft verspottend und reizend. Sie wird sich ihrer Phantasie schämen, trotzdem aber alles behalten, alles auskosten, wird sich selbst unerhört verleumden unter dem Vorwand, daß dies alles ja ebensogut hätte wirklich geschehen können, und wird nichts, aber auch nichts verzeihen. Am Ende wird sie auch anfangen sich zu rächen, doch irgendwie sporadisch, kurzatmig, hinter dem Ofen hervor, inkognito, ohne sich das Recht auf Rache zuzugestehen, ohne an den Erfolg der Rache zu glauben, und im voraus wissend, daß sie selbst unter all ihren Bemühungen hundertmal mehr leiden wird als der, an dem sie sich rächen will, ja, daß dieser vielleicht nicht einmal etwas spüren wird. Auf dem Sterbebett wird sie sich wiederum des Ganzen erinnern, einschließlich aller in der Zwischenzeit hinzugekommenen Prozente und … Aber gerade in dieser kalten ekelhaften Halbverzweiflung, in diesem Halbglauben, in diesem leidvollen bewußten Sich-selbst-lebendig-Begraben, in einem Kellerloch auf volle vierzig Jahre, in dieser mit größtem Aufwand ausgeklügelten und dennoch zum Teil zweifelhaften Aussichtslosigkeit, in all dem Gift ungestillten, im Innern gestauten Begehrens, in diesem Fieber eines Schwankens zwischen auf ewig gefaßten Entschlüssen und im Augenblick auftretender Reue – darin, gerade darin liegt die Essenz jenes sonderbaren Genusses, von dem ich sprach. Er ist derart fein und dem Bewußtsein zuweilen so verborgen, daß auch die nur um ein weniges beschränkteren Menschen, ja sogar einfach Menschen mit starken Nerven, überhaupt nichts davon verstehen. Vielleicht können auch diejenigen nichts davon verstehen, werden Sie wohl mit einem spöttischen Lächeln hinzufügen, die niemals Ohrfeigen bekommen haben, und wollen mir auf diese Weise höflich zu verstehen geben, daß vielleicht auch ich schon in meinem Leben eine Ohrfeige bekommen habe und darum aus Erfahrung spreche. Ich könnte wetten, daß Sie das denken. Aber beruhigen Sie sich, meine Herrschaften, ich habe niemals Ohrfeigen bekommen, obwohl es mir vollkommen gleichgültig ist, was Sie darüber denken. Ich bedaure vielleicht, daß ich selbst in meinem Leben wenig Ohrfeigen ausgeteilt habe, aber genug, kein Wort mehr über dieses für Sie so ungemein interessante Thema.
Ich fahre ruhig fort, über die Menschen mit starken Nerven zu sprechen, denen ein gewisser erlesener Genuß unzugänglich bleibt. Diese Herrschaften brüllen zwar beispielsweise in bestimmten Fällen wie die Ochsen, aus vollem Halse, was ihnen meinetwegen die größte Ehre einbringt, aber, wie ich bereits erwähnte, beruhigen sie sich sofort vor jeder Unmöglichkeit. Eine Unmöglichkeit – also eine Mauer! Was für eine Mauer? Nun, versteht sich, Naturgesetze, naturwissenschaftliche Ergebnisse, Mathematik. Hat man dir einmal zum Beispiel bewiesen, daß du vom Affen abstammst, so darfst du nicht einmal die Nase rümpfen, sondern hast es hinzunehmen, wie es ist. Hat man dir bewiesen, daß ein einziges Tröpfchen deines eigenen Fettes dir teurer sein muß als Hunderttausend deinesgleichen und daß diese Einsicht schließlich alle sogenannten Tugenden und Pflichten und sonstige Spinnereien und Vorurteile aufklärt, so mußt du das ruhig hinnehmen, nichts dagegen zu machen, denn zwei mal zwei – ist Mathematik. Versuchen Sie, es zu widerlegen.
»Gestatten Sie«, wird man Ihnen zurufen, »dagegen gibt es keine Auflehnung: das ist Zwei-mal-zwei-gleich-vier! Die Natur wird sich nach Ihnen nicht richten; was gehen die Natur Ihre Wünsche an und ob ihre Gesetze Ihnen gefallen oder mißfallen. Sie müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich
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