Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Beispiel ich mich beruhigen? Wo sind meine primären Gründe, auf die ich mich stützen kann, wo meine Ursachen? Woher nehme ich sie? Ich übe mich im Denken, folglich zieht bei mir jeder primäre Grund einen anderen nach sich, der noch primärer ist, und so geht es weiter ins Endlose. Darin besteht das Wesen jeglichen Bewußtseins und Denkens. Somit sind wir schon wieder bei den Naturgesetzen. Und was ist also das Resultat? Dasselbe. Sie erinnern sich: vorhin sprach ich von der Rache (Sie haben es bestimmt nicht verstehen können). Da hieß es: der Mensch rächt sich, weil er es für gerecht hält. Folglich fand er einen primären Grund, nämlich: die Gerechtigkeit. Also ist er rundum beruhigt und rächt sich friedlich und erfolgreich in der tiefen Überzeugung, eine ehrliche und gerechte Tat zu vollbringen. Ich dagegen kann hier keine Gerechtigkeit sehen und schon gar keine Tugend. Wollte ich mich also trotzdem noch rächen, so könnte es allenfalls aus Bosheit geschehen. Die Bosheit könnte, versteht sich, alles übertönen, alle meine Zweifel, und somit mit vollem Erfolg den primären Grund abgeben, gerade weil sie kein Grund sein kann. Aber was soll ich tun, da ich nicht einmal böse bin (davon bin ich vorhin ausgegangen). Auch die Bosheit unterliegt bei mir infolge dieser verwünschten Gesetze des Bewußtseins einer chemischen Zersetzung. Bei näherem Betrachten verflüchtigt sich das Objekt, die Gründe verdunsten, ein Schuldiger ist nicht aufzutreiben, die Beleidigung bleibt nicht Beleidigung, sondern wird Fatum, eine Art Zahnschmerz, an dem keiner schuld ist, und so bleibt wiederum nur ein Ausweg, nämlich die Mauer so schmerzhaft wie möglich zu bearbeiten. Und schließlich zuckt man mit den Schultern, denn der primäre Grund bleibt unauffindbar. Versucht man aber, blindlings, ohne abzuwägen, ohne primären Grund für einen Augenblick das Bewußtsein vertreibend, sich vom Gefühl hinreißen zu lassen; läßt man sich von Haß oder Liebe ergreifen, nur, um nicht mit den Händen im Schoß stillzusitzen – übermorgen, das ist die allerletzte Frist, wirst du dich selbst verachten, weil du dich selbst wissentlich betrogen hast. Resultat: Seifenblase und Trägheit. Oh, meine Herrschaften, vielleicht halte ich mich nur deswegen für einen klugen Menschen, weil ich in meinem ganzen Leben weder etwas habe beginnen noch beenden können. Schon gut, schon gut, ich mag ein Schwätzer sein, ein harmloser, lästiger Schwätzer, wie wir es ja alle sind. Aber was soll man denn tun, wenn die einzige und direkte Bestimmung eines jeglichen klugen Menschen in Schwatzen besteht: das heißt darin, mit Vorsatz leeres Stroh zu dreschen.
VIII
»Ha-ha-ha, aber das Wollen gibt es ja eigentlich gar nicht, wenn man es recht besieht!« unterbrechen Sie mich lachend. »Die Wissenschaft hat den Menschen heute schon so weit auseinanderanatomiert, daß bereits bekannt ist, daß der sogenannte freie Wille und das Wollen nichts anderes ist als …«
Warten Sie, meine Herrschaften, ich wollte selbst davon anfangen. Offen gestanden, ich bin direkt erschrocken. Ich wollte gerade ausrufen, daß das Wollen weiß der Teufel wovon abhängt und daß wir dafür unter Umständen Gott danken müssen, aber da fiel mir plötzlich die Wissenschaft ein und … und ich hielt den Mund. Da fingen Sie auch schon an. In der Tat, fände man wirklich einmal die Formel unseres Willens und unserer Launen, das heißt ihren Grund und das Gesetz ihrer Entstehung, ihrer Ausbreitung, ihrer Richtung in diesem und in jenem Fall usw. usw., das heißt die richtige mathematische Formel – so würde der Mensch womöglich augenblicklich aufhören zu wollen, ja, er würde sogar mit Sicherheit aufhören. Was ist denn das für ein Vergnügen, nach einer Tabelle zu wollen? Das wäre ja auch noch nicht alles: er verwandelte sich dann augenblicklich aus einem Menschen in einen Drehorgelstift oder etwas Derartiges; was ist denn ein Mensch ohne Wünsche, ohne Willen und ohne Begehren anderes als ein Stiftchen an einer Drehorgelwalze? Was meinen Sie? Rechnen wir doch die Wahrscheinlichkeit durch – kann das geschehen oder nicht?
»Hm …!« meinen Sie daraufhin, »unser Begehren ist meistenteils fehlerhaft infolge der fehlerhaften Auffassung von unseren Vorteilen. Darum streben wir zuweilen nach barem Unsinn, weil wir infolge unserer Dummheit in diesem Unsinn den leichtesten Weg zum Erlangen irgendeines vermeintlichen Vorteils sehen. Nun, wenn aber alles erklärt, schwarz
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