Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
auch ihre Resultate. Mauer bleibt also Mauer … usw. usw.« Herrgott, was gehen mich aber die Naturgesetze und die Arithmetik an, wenn mir diese Gesetze und das Zwei-mal-zwei-gleich-vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde in eine solche Mauer mit der Stirn keine Bresche schlagen können, wenn ich tatsächlich die Kraft dazu nicht habe, aber ich werde mich mit ihr auch nicht abfinden, bloß, weil ich vor einer Mauer stehe und meine Kräfte nicht ausreichen.
Als ob eine solche Mauer tatsächlich eine Beruhigung wäre, als ob sie den geringsten Trost enthielte, einzig, weil sie Zwei-mal-zwei-gleich-vier ist. Oh, Ungereimtheit aller Ungereimtheiten! Eine ganz andere Sache ist es doch: alles verstehen, alles einsehen, alle Unmöglichkeiten und alle Mauern; mit keiner Unmöglichkeit und mit keiner Mauer sich zufriedengeben, wenn einem das Sich-Zufriedengeben zuwider ist, mittels unausweichlicher logischer Kombinationen zu den allerwiderlichsten Schlüssen gelangen über das ewige Thema, daß man sogar an der Mauer irgendwie selbst schuld ist, obgleich es sich mit größter Klarheit zeigt, daß man durchaus schuldlos ist, infolgedessen schweigend und machtlos zähneknirschend wollüstig in Trägheit verweilen in dem Gedanken, daß es nicht einmal einen Grund gibt, sich über jemanden zu ärgern; daß überhaupt kein Objekt vorhanden ist und sich wahrscheinlich nie eines finden lassen wird, daß hier eine Täuschung vorliegt, eine Falschspielerei, einfach Schlamm – unbekannt was, unbekannt wer, aber ungeachtet all der Unsicherheit und Täuschung leidet man doch, und je mehr einem unbekannt ist, um so mehr leidet man.
IV
»Ha-ha-ha! Dann werden Sie ja auch an Zahnschmerzen Genuß finden!« werden Sie lachend ausrufen.
Warum nicht, auch im Zahnschmerz liegt ein Genuß, antworte ich. Einmal habe ich einen ganzen Monat Zahnschmerzen gehabt; ich weiß, daß es das gibt. Hierbei leidet man natürlich nicht stumm – man stöhnt; aber dieses Gestöhn ist kein aufrichtiges, es ist ein hinterhältiges Gestöhn, und um diese Hinterhältigkeit geht es ja. Gerade in diesem Gestöhn drückt sich der Genuß des Leidenden aus; empfände er keinen Genuß – so würde er auch nicht stöhnen. Das ist ein gutes Beispiel, meine Herrschaften, ich will bei ihm länger verweilen. In diesem Stöhnen drückt sich erstens die ganze für unser Bewußtsein erniedrigende Zwecklosigkeit dieses Schmerzes aus; die ganze Naturgesetzmäßigkeit; die man zwar zutiefst verachtet, durch die man aber trotzdem leiden muß, die Natur aber nicht. Man kommt zu der Einsicht, daß man zwar keinen Feind, aber einen zugefügten Schmerz hat; zu der Einsicht, daß man samt allen diversen Wagenheim s restlos Sklave seiner Zähne ist; daß, falls es ein Jemand wünscht, die Zähne nicht mehr schmerzen, wünscht er es aber nicht, so werden sie noch weitere drei Monate schmerzen; und schließlich, wenn man sich noch immer nicht abfinden und noch immer auflehnen will, bleibt einem zu seiner Beruhigung höchstens noch übrig, sich selbst durchzuprügeln oder mit der Faust möglichst schmerzhaft auf seine Mauer einzuschlagen, sonst aber absolut nichts. Nun, gerade mit diesen Kränkungen bis aufs Blut, mit diesem Hohn, unbekannt von wem, beginnt schließlich der Genuß, der sich zuweilen bis zu höchster Wollust steigern kann. Ich bitte Sie, meine Herrschaften, hören Sie sich doch irgendwann einmal in das Gestöhn eines gebildeten Menschen des neunzehnten Jahrhunderts hinein, wenn er an Zahnschmerzen leidet, etwa am zweiten oder dritten Tag seiner Krankheit, wenn er nicht mehr so stöhnt wie am ersten Tag, das heißt, nicht nur einfach, weil seine Zähne schmerzen; nicht wie irgendein gewöhnlicher Bauer, sondern wie ein Mensch, der der Bildung und der europäischen Zivilisation teilhaft geworden ist, wie ein Mensch, der sich ›von Heimatscholle und Volksgeist getrennt hat‹, wie man sich jetzt auszudrücken pflegt. Sein Gestöhn wird übel, boshaft, gemein und hält Tag und Nacht an. Dabei weiß er ja selbst, daß dieses Stöhnen ihm nicht den geringsten Vorteil bringen kann; er weiß am allerbesten, daß er damit ganz umsonst sich selbst und andere peinigt und reizt; er sieht sogar ein, daß das Publikum, vor dem er sich solche Mühe gibt, seine ganze Familie, bereits Widerwillen empfindet, ihm nicht für eine Kopeke glaubt und bei sich denkt, daß er auch anders, schlichter, stöhnen könnte, ohne Rouladen und Triller, daß er nur aus Bosheit und
Weitere Kostenlose Bücher