Auge des Mondes
ERSTES BUCH BASTET
eins
Nachts gehörten die flachen Dächer von Per-Bastet den Katzen, und auch tagsüber schienen die einstmals so scheuen Tiere die Stadt mehr und mehr in Besitz zu nehmen, so dreist trieben sie sich inzwischen überall herum. Nur auf dem Markt wurden sie immer verjagt, obwohl es dort so verführerisch roch. Unverrückbar blieb er Domäne der Frauen, die alle unverschämten Bettler und Räuber in Tiergestalt verscheuchten. Die ersten Händlerinnen erschienen jeden Morgen sehr früh, um sich die besten Plätze zu sichern. Kaum hatte Re seine Nachtmeerfahrt beendet und stieg als glühender Sonnenball am östlichen Horizont neu empor, begannen sie schon emsig den staubigen Boden zu fegen und ihre Waren auszulegen: manche auf leinenen Tüchern, andere auf Binsenmatten, wieder andere in Körben, die ebenfalls aus Papyrus geflochten waren, der hier im Delta verschwenderisch wie Unkraut wucherte.
Mina kannte jede von ihnen, ebenso wie das, was sie Tag für Tag feilzubieten hatten: je nach Jahreszeit Zwiebeln, Bohnen, Linsen und Hirse, dazu die grünen, frischen Lauchstangen, Gurken, Dill, Koriander, Bockshornklee und glutrote Safranfäden, die zwar sündhaft teuer, aber dennoch äußerst begehrt waren. Andere offerierten Feigen, Datteln und Granatäpfel oder schichteten kleine Kuchen aus Mehl und Honig zu klebrigen Kegeln auf, während breitfüßige Bäuerinnen sich bemühten, ihre aufgebrachten Hühner- und Entenscharen, die sich aufführten, als ahnten sie bereits, dass ihr Ende nicht mehr lange auf sich warten ließ, in den überfüllten Käfigen zu beschwichtigen.
Am späteren Vormittag gesellten sich dann die Wunderfrauen dazu, mit duftenden Kräutergirlanden um den Hals, sich brüstend, mit ihren geheimen Rezepturen jeder nur denkbaren Unpässlichkeit den Garaus machen zu können: Von Tinkturen für Glatzköpfige, die neu sprießenden Haarwuchs verhießen, über verschiedenste Fruchtbarkeitszauber bis hin zu Medizin gegen Schlaflosigkeit und Impotenz reichte ihr Repertoire.
Danach wurde es Zeit für den Schlangenbeschwörer, einen dünnen, verwahrlosten Kerl mit verfilzten Haaren, begleitet von einer alten Kobra, die längst ihre Giftzähne verloren hatte und mit ihrem matten Schlängeln gerade noch furchtsamen Mäusen Angst einflößen konnte. Wie von Zauberhand waren mit einem Mal auch die Akrobaten da, die sich als lebende Menschenpyramiden mit halsbrecherischen Kunststücken aufeinanderstapelten.
Bis zuletzt schließlich das Häuflein der Geschichtenerzähler eintrudelte, unter denen Mina als ungekrönte Königin galt. Sie brauchte kein Krokodil wie Sedi, der Aufschneider, der einen einäugigen Kaiman abgerichtet hatte, um mit seiner Hilfe die Schrecken des Krokodilgottes Sobek heraufzubeschwören; ebenso wenig hatte sie es nötig, sich stark riechender Essenzen zu bedienen, deren Dämpfe die weißhaarigen Zwillingsschwestern aus ihren verbeulten Räucherbecken aufsteigen ließen, um genügend Zuhörer anzulocken. Mina verließ sich ganz auf die Kraft der Sprache, für sie seit jeher die stärkste und machtvollste aller Waffen.
Sie wusste, worauf es ankam, vertraute ihrem Gespür für den richtigen Einsatz. Zu früh zu beginnen konnte bedeuten, dass die weibliche Aufmerksamkeit noch auf den Erwerb von Lauch und Zwiebeln gerichtet war, zu spät, dass die Frauen sich in Gedanken bereits wieder an der heimischen Kochstelle eingefunden hatten.
Meistens überlegte sie nicht einmal, womit sie anfangen solle, sondern überließ es der Geschichte, schwerelos aus ihrem Inneren aufzusteigen, wo sie ein riesiges Reservoir als ihren kostbarsten Schatz hütete. Sie begann leise, fast beiläufig, als spreche sie zu sich selber, eine vielfach erprobte Methode, um erste Neugierige anzulocken. Kaum hatten sie einen aufmerksamen Kreis um die Erzählerin gebildet, hob sie die Stimme und ließ ein paar Bewegungen einfließen. Ein zweiter Kreis formte sich, dann ein dritter, bis schließlich eine dichte Traube von Zuhörerinnen Minna eng umschloss. Dann erst steigerte sie Tempo, Spannung und Mimik. Wenn nun endlich alle Mina fasziniert anstarrten und kaum noch zu schlucken wagten, aus Furcht, das Wichtigste zu verpassen, dann kreiste das Glück wie starker, würziger Wein in ihrem Kopf.
Das Ende kam eigentlich immer zu schnell, egal, wie geschickt sie es auch hinausgezögert hatte. Sie sah es an den Gesichtern, die plötzlich wieder verdrossen waren, an der Unwilligkeit, mit der die Menschen sich
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