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Auge um Auge

Auge um Auge

Titel: Auge um Auge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Vivian , Jenny Han
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Stimme an jenem Morgen. Irgendwie gelangweilt klang sie. Ich fragte mich, ob er mich da draußen bemerkt hatte, ob er darüber nachgedacht hatte, dass ich im Regen stand, nur um ihm nicht zu begegnen. Ob er mich deswegen zu sich runtergerufen hatte. Weil er ein schlechtes Gewissen hatte.
    Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und mich selbst zur Tür hinaus in den Regen schieben. Schön wär’s. Stattdessen ging ich zu ihm unter Deck, als wäre Big Easy tatsächlich mein Name. Ich sagte sogar »Hey, Reeve«, so als wären wir Freunde. Und lächelte dazu. Ich war dankbar. Ich war einsam.
    Reeve sah zu mir hoch. Er schwieg kurz, dann sagte er: »Mach mal einen Schritt nach rechts.«
    Ich gehorchte.
    Reeve rutschte von seinem Platz, der Sitz klappte hoch, so wie im Kino. Dann hockte er sich mit dem Rücken zu mir davor auf den Boden und zog etwas aus der Tasche.
    »Was machst du da?«, flüsterte ich.
    Reeve antwortete nicht, aber seine Schultern bewegten sich auf und ab. Ich hörte ein kratzendes Geräusch.
    Vorsichtig warf ich einen Blick über die Schulter. Die alte Frau im Schiffskiosk hinter mir wartete auf Kundschaft und las derweil in der Zeitung. Vermutlich spürte sie meinen Blick, denn sie hob den Kopf und lächelte mich an. Ich zwang mich zurückzulächeln, dann drehte ich mich um und tat so, als würde ich den Sturm vor den Fenstern beobachten.
    Erst da begriff ich: Reeve benutzte mich. Ich sollte ihm Deckung geben.
    Einerseits wollte ich keinen Ärger kriegen. Aber andererseits fühlte ich mich auch ... nützlich.
    Als er fertig war, setzte Reeve sich wieder hin. Mit einer Hand ließ er ein Messer auf- und zuschnappen. »Das habe ich meinem Bruder Luke geklaut.«
    Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte, ob ich wieder an Deck gehen sollte, doch Reeve sagte lässig: »Wenn du willst, erklär ich dir die verschiedenen Funktionen.«
    Und das tat er dann während der restlichen Überfahrt.
    Als wir das Festland fast erreicht hatten, packte Reeve seine Sachen zusammen und ging zur Toilette. Ich wartete darauf, dass er zurückkam. Als er nicht erschien, ging ich zum Fenster. Reeve hatte die Fähre bereits verlassen und lief die Straße zur Schule hinauf.
    Ich ließ mir Zeit und ging ganz langsam, um ihn nicht einzuholen.
    ···
    Die Glocke läutet, und sofort bricht ein Lärm aus, als hätte die gesamte Klasse eine Dreiviertelstunde lang kollektiv den Atem angehalten und dürfte jetzt endlich wieder sprechen. Die verschiedenen Grüppchen finden sich wieder und gehen hinaus auf den Flur.
    Ich bleibe zurück.
    Es ist nicht so, als wäre ich mit der Erwartung an die Jar Island High gekommen, sofort zu den beliebten Mädchen zu gehören. Ich bin kein Mensch, der sich Illusionen macht. Auch an der Montessori hatte ich nicht eine Million Freunde. Aber es gab doch eine Menge Leute, die mit mir redeten. Ich hatte meinen festen Platz beim Essen. Mein Leben war absolut in Ordnung, bis Reeve auftauchte.
    Warum bin ich zurückgekommen? Was genau wollte ich damit erreichen?
    Es dauerte lange, bis ich einigermaßen darüber hinweg war, aber ich hab’s geschafft. Irgendwann ging es mir tatsächlich besser. Doch jetzt auf einmal ist es so, als hätte es die letzten vier Jahre nie gegeben, und ich fühle mich genauso schrecklich wie damals. Ich könnte jetzt zu Hause sein, bei meinen Eltern. Stattdessen bin ich hier, gequält von schlimmen Erinnerungen, ohne Freunde und in der Nähe des Jungen, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat.
    Also gut.
    Ich gehe wieder.
    Als ich diese Entscheidung getroffen habe, fühle ich mich gleich viel leichter. Ich packe zusammen und gehe den Flur hinunter. Ganz am Ende steht Reeve, so selbstsicher und großspurig wie immer. Wohin auch immer er unterwegs ist, er lässt sich viel Zeit.
    Perfekt .
    Ich weiß genau, was ich jetzt mache. Gestern hat er mich kalt erwischt, aber heute bin ich vorbereitet. Ich werde mich direkt vor ihn hinstellen und meinen Namen sagen, meinen richtigen Namen, ganz laut. Er soll mit eigenen Augen sehen, dass er es nicht geschafft hat, mich zu brechen, dass ich hier bin. Und dann werde ich dieses Kapitel in meinem Leben beenden, ein für alle Mal, mit einer dicken fetten Kusshand. Ohne Bedauern. So kann schließlich kein Mensch leben.
    Ich spüre, wie mein Adrenalinspiegel steigt, als ich schneller gehe und mich durch das Gedränge auf dem Flur zwänge, um zu ihm zu gelangen. »Reeve!«, rufe ich die Treppe hinunter.
    Doch er dreht sich nicht um, und

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