Lord Gamma
Alphard 1
»HIER IST RADIO GAMMA. Ich komme euch entgegen, ich folge euch. Eins ist wie’s andere. Die Straße geht immer geradeaus, das wißt ihr. Wann, zum Teufel, seid ihr das letzte Mal durch eine Kurve gefahren? Lange her, nicht wahr? Jene von euch, die es trotzdem geschafft haben, liegen seither auf dem Wagendach. Wem seid ihr ausgewichen? Einem Kopten? Ha, war ein Witz! Die Kojoten sind verglüht. Aber die Straße hat es überdauert. Sie ist wie ein Zuckerband, führt immer geradeaus, immer bergab, sweet candyroad. Ihr müßt hier fahren. Es ist wichtig. Ihr wißt das ebenso gut wie ich. Es ist eure verdammte Pflicht, auf dieser Straße zufahren. Ich bin bei euch. Kein Läufer kann mich stoppen. Ich beschleunige mich bis zum Quantensprung. Ihr seht mich nicht, die Läufer sehen mich nicht. Aber ich bin da, glaubt mir. Ich weiß, manche von euch sind zu Fuß unterwegs. Verschwindet vom Asphalt, Leute, er gehört dem Motorbiest. Für euch ist der Staub rechts und links der Straße. Das tut euren Füßen gut und ist gesünder. Scheiße, sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt. Ich will eure plattgefahrenen Ärsche nicht von der Straße kratzen müssen. Das ist nicht mein Job! …«
Ich schnippte die niedergerauchte Zigarette fort und schaltete das Radio aus. »Damit quatscht er uns immer voll, wenn wir anhalten«, sagte ich. »Seine Sprüche kenne ich inzwischen auswendig.«
Prill wippte nervös mit den Beinen. »Ich habe das noch nie gehört.«
»Natürlich nicht. Es ist nicht auf deinem Persönlichkeitsmuster gespeichert.«
»Manchmal habe ich den Eindruck, du bist sauer auf den Wagen. Als wäre er für das Radioprogramm verantwortlich.« Prills Blick war in die Ferne gerichtet, die Straße hinab, in den Sonnenuntergang.
»Ja«, bestätigte ich gedehnt. »Leider habe ich den Moderator bis heute nicht gefunden. Im Motor saß er jedenfalls nicht, den habe ich schon vor dreitausend Kilometern ausgebaut …« Ebenso wie das Gaspedal und die Kupplung und den Tank, ergänzte ich in Gedanken. Selbst mit einem Müllcontainer auf Rollen, in den man eine funktionierende Lenkung einbauen würde, käme man bis ans Ende dieser Welt. Die Straße war zweispurig und schnurgerade und führte tatsächlich immer bergab. Ihre Breite betrug exakt 25 Fuß, und sie war so plan, als wäre sie erst vor wenigen Tagen fertiggestellt worden. Dabei war ihr Asphalt von einer altgrauen Farbe, die Straßen für gewöhnlich erst nach Jahrzehnten annahmen. Es gab keine Spurrinnen, nur einen fast verblichenen Mittelstreifen, der sagte: ›Überholen verboten!‹ Das einzige, was in der Lage war, einen auf der Straße zu überholen, war die eigene Verzweiflung über ihre Endlosigkeit. Sie könnte noch einmal sechstausend Kilometer weit führen, vielleicht aber auch zehntausend oder eine Million Kilometer. Die Straße war die Straße war die Straße. Mit Gegenverkehr brauchte ich nicht zu rechnen; es gab keinen. Allenfalls ein Läufer tauchte hin und wieder vor der Schnauze des Pontiac auf. Unentbehrlich für meine Fahrt hinab in die Unendlichkeit waren nur das Bremspedal, das Lenkrad, vier Räder und zwei Sitze. Der Rest war Laderaum für Lebensmittel, Waffen und weitere Ausrüstung.
»Bedauerlich, daß ich nie einem von denen gegenüberstehen werde, die für alles verantwortlich sind«, murmelte Prill in unterdrückter Wut. »Um ihnen ins Gesicht zu spucken!«
»Du könntest das Radio anspucken«, schlug ich vor. Es sollte ein Witz sein, doch Prill war nicht in der Stimmung, um darüber zu lachen.
»Meinst du, dieser Moderator steckt dahinter?« fragte sie.
Ich zuckte die Achseln.
»Wie kann ich jemandem nützen, wenn ich jedesmal von vorne beginnen muß?« Prill schluckte. Selbst in der Dunkelheit konnte ich ihrem Gesicht ablesen, daß sie Angst hatte. Von vorne beginnen müssen war eine äußerst hilflose Umschreibung für das, was ihr bevorstand. Dennoch war ich überrascht. Keine ihrer Vorgängerinnen hatte diese Worte je gebraucht.
Wir hatten die Barrieren schon so oft überquert, aber für Prill war es am Ende jeder Zone immer das erste Mal. Auch die Erinnerung daran war nicht auf ihrem Muster gespeichert. Der Schock überwältigte sie natürlich auch ohne Musterinformation, doch ich besaß inzwischen genug Erfahrung, um Prill so einfühlsam wie möglich auf das Kommende vorzubereiten. Manchmal kam ich mir dabei vor wie Gamma; immer dieselbe verbale Reaktion auf eine bestimmte Aktion. Es war anstrengend. Alles war
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